Donner&Reuschel-Chefvolkswirt Carsten Mumm ordnet den jüngsten Ölpreisschock und seine Folgen für Aktien und die Börse ein und Verrät, wie es jetzt mit der Inflation und den Zinsen weitergeht.
Börse Online: Herr Mumm, das Ölkartell Opec+ hat mit einer überraschenden Förderkürzung einen deutlichen Ölpreisanstieg provoziert. Droht eine neue Energiekrise?
Carsten Mumm: Einen weiteren deutlichen Ölpreisanstieg halte ich für unwahrscheinlich. Man muss die aktuelle Preisbewegung im Kontext der letzten Wochen sehen. Bisher wurde nur der seit Mitte März im Zuge der Turbulenzen im Bankensektor entstandene Preiseinbruch ausgeglichen. Die Drosselung der Fördermengen ist auch eine Reaktion auf die sich immer deutlicher abzeichnende schwächere konjunkturelle Erholung in den kommenden Monaten.
Welche Auswirkungen sind auf die Inflationsrate zu erwarten?
Bei Preisen um die 85 US-Dollar für ein Barrel der Nordseesorte Brent halten sich die Auswirkungen für die Eurozone in Grenzen. Da parallel der Euro im Vergleich zum Dollar wieder zugelegt hat, wurde der jüngste Rohölpreisanstieg abgemildert. Umgerechnet notiert Brent bei knapp 80 Euro pro Barrel, ein Niveau, welches seit Dezember 2022 nicht nachhaltig überschritten wurde. Für die Inflationsberechnung in den kommenden Monaten sind neben den aktuellen Preisen die Vergeichsgrößen, also die Monatsdurchschnittspreise des jeweiligen Vorjahres, relevant. Diese liegen beim Rohöl zwischen März und November oberhalb der Marke von 90 Euro, in den Sommermonaten teilweise deutlich über 100 Euro. Solange der aktuelle Ölpreis diese Niveaus nicht erreicht, wird die nominale Inflationsrate durch die Energiepreiskomponente gedrückt. In ähnlicher Größenordnung wirkt dieser Effekt in den USA bezogen auf den Dollarpreis der US-Ölsorte WTI.
Inflation, Zinsen und der DAX vor dem Rekordhoch
Rechnen Sie damit, dass die Notenbanken ihren Zinskurs verlängern oder sogar nochmal verschärfen?
Der Fokus der Notenbanken liegt derzeit eher auf der Kernrate der Inflation, also dem Teuerungsdruck ohne die Komponenten Energie und Nahrungsmittel. Während die nominale Inflation zuletzt energiepreisbedingt deutlich gesunken ist – in der Eurozone im März auf 6,9 Prozent – ist die Kernrate auf 5,7 Prozent gestiegen. Die Preise steigen also mittlerweile bei nahezu allen Gütern und Dienstleistungen deutlich. In diesem Kontext könnte die sich ohnehin zuletzt abzeichnende schwächere Erholung im Industriesektor eher hilfreich sein, denn vielen Unternehmen fehlen derzeit Anschlussaufträge für die Zeit nach der Abarbeitung der in den letzten Jahren aufgestauten Aufträge. Wenn für Neuaufträge bspw. Preisnachlässe gewährt werden müssen, wird der von den Gewinnmargen ausgehende Preisdruck abnehmen. Entscheidend ist auch die Frage, ob China ab dem zweiten Quartal tatsächlich wie erwartet eine hohe Wachstumsdynamik aufnehmen kann und die Nachfrage am Weltmarkt erhöht.
Der DAX hat am Dienstag ein neues Jahreshoch bei 15737 Punkten markiert. Wie geht es an den Börsen weiter?
Deutsche und europäische Aktienindizes haben ja teilweise gerade neue Jahreshöchststände erreicht. Ich denke, dass die Aufwärtsdynamik damit vorerst auslaufen wird, denn es ist mit verstärkten Gewinnrevisionen in den kommenden Monaten zu rechnen. Neben einer noch schwachen Nachfrage durch die nur langsame Konjunkturerholung belasten sukzessive steigende Refinanzierungskosten im Zuge weiter anziehender Leitzinsen bzw. noch nicht absehbarer Zinssenkungen die Kostenseite. Es ist auch davon auszugehen, dass die Insolvenzanmeldungen steigen werden. Mit weiteren Aufwärtsimpulsen ist wohl erst im Fall sich konkretisierender Leitzinserhöhungspausen der Notenbanken zu rechnen.
Übrigens: Finden Sie nach dem Lesen dieses Artikels heraus, wie hohe Zinsen Sie aktuell beim Tagesgeld und beim Festgeld bekommen.
Steigende Ölpreise - Drehen die Saudis den Börsen den Saft ab?
Wer könnten dann die Gewinner und Verlierer sein?
Deutlich steigende Ölpreise würden Ölkonzernen kurzfristig zugutekommen. Allerdings bestünde damit auch die Gefahr eines kompletten Abwürgens der wirtschaftlichen Erholung in den kommenden Monaten mit der Folge einer wieder nachlassenden Rohölnachfrage. Für eher wahrscheinlich halte ich eine Konsolidierung der Aktienbörsen auf den erreichten Niveaus mit zwischenzeitlichen Rücksetzern bis mehr Klarheit über den künftigen geldpolitischen Kurs der Notenbanken herrscht. Gewinner einer verspäteten Konjunkturerholung und vor allem einer wirtschaftlichen Aufholung Chinas wären vor allem zyklische Branchen, wie der Fahrzeug- und Maschinenbau sowie Technologietitel.
Die Förderkürzung hat auch eine risikoträchtige politische Dimension. Verschlechtert sich dadurch das angespannte Verhältnis zwischen Saudi-Arabien und den USA weiter? Und welche Folgen hat es, wenn sich Saudi-Arabien verstärkt China und Russland zuwendet?
Geopolitisch verschieben sich derzeit Gewichte. Immer mehr Staaten entscheiden sich gegen die Zugehörigkeit zu einem bestimmten politischen Block. So interpretiere ich auch die Entwicklung des Verhältnisses zwischen Saudi-Arabien und den USA. Dabei geht es nicht darum, sich einem anderen Block, beispielsweise China und/oder Russland anzuschließen. Vielmehr wird versucht, in Falle geopolitischer Konflikte eine neutrale Stellung einzunehmen und für sich individuell das Beste aus der Situation herauszuholen. Ähnlich agiert Indien, indem es die Importe russischen Öls zum Discountpreis im Vergleich zum Weltmarkt deutlich erhöht hat, gleichzeitig aber technologische und wirtschaftliche Kooperationen mit den USA und der Eurozone anstrebt. Es sieht aktuell weniger nach einer neuen Blockbildung in der Welt als vielmehr nach einer dezentraleren Weltordnung aus. Deutschland und Europa müssen darauf reagieren, indem sie außenpolitisch vielfältigere Wege gehen und bestehende Abhängigkeiten von einzelnen Regionen reduzieren.
Lesen Sie auch: KCV von unter 1,0 – Diese 20 unterbewerteten Aktien wie TUI und Volkswagen schwimmen im Geld