Europaweit fallen die Kurse, doch ein Boden ist nicht in Sicht. Geht es nach Graham Secker, Chef-Aktienstratege Europa von Morgan Stanley, könnten Europas Aktien, die in diesem Jahr bereits einen Rückschlag von 14 Prozent hinnehmen mussten, um weitere 15 Prozent einbrechen. Von Frank Pöpsel
Er erwartet eine bevorstehende Rezession in Europa, die das Gewinnwachstum im nächsten Jahr in den negativen Bereich ziehen wird. Laut Secker erwarten Analysten in diesem Jahr im Durchschnitt ein Wachstum der europäischen Gewinne von 17 Prozent und im nächsten Jahr von zwei Prozent. Im Vergleich dazu sieht Morgan Stanley in diesem Jahr ein Wachstum von 12 Prozent und einen Rückgang von zehn Prozent im Jahr 2023.
Auch die Experten von Goldman Sachs, der größten Investmentbank der Welt, sehen schwarz. Sie prognostizierten, dass sich die monatlichen Energierechnungen der Europäer in diesem Winter auf durchschnittlich 500 pro Familie in der Spitze verdreifachen werden.
Im schlimmsten Fall könnten die Stromrechnungen 15 Prozent des europäischen Bruttoinlandsprodukts ausmachen und andere Arten von Ausgaben und Investitionen verdrängen. Goldman warnt davor, dass die Auswirkungen „noch tiefer sein werden als die Ölkrise der 1970er Jahre".
Viele Investoren haben bereits die Flucht ergriffen. Die Abflüsse aus europäischen ETFs erreichten im vergangenen Monat den höchsten Stand seit der Brexit-Panik von 2016, berichtete der Vermögensverwalter Black-Rock.
Die Europäische Zentralbank habe die fast unmögliche Aufgabe, die Inflation zu dämpfen und gleichzeitig eine tiefe Rezession zu vermeiden.
Staatliche Rettungsaktionen dürften den Schmerz lindern, aber nicht beseitigen. „Sie sprechen von einer Größenordnung von über eine Billion Euro an zusätzlichen Energiekosten für die Menschen", warnt Morgan-Stanley-Experte Secker. „Die Regierungen werden versuchen, einen Teil davon mit steuerlicher Unterstützung zu sozialisieren. Sie werden nicht in der Lage sein, alles zu tun. Die Zahl ist zu groß.“