€uro: Herr Jin, der Asiatischen Infrastrukturinvestmentbank (AIIB) wird seit ihrer Gründung 2016 vorgeworfen, sie sei nur ­Mittel zum Zweck, Chinas Interessen ­durchzusetzen. Ärgert Sie das?
Jin Liqun: Ich denke, es ist sehr schwer, ­diejenigen, die das glauben, vom Gegenteil zu überzeugen. Aber das stört mich nicht besonders. Am Ende ist doch entscheidend, was wir als Entwicklungsbank bewirken ­können, und nicht, worüber andere sprechen.

Was wollen Sie denn bewirken?
Die AIIB ist auf Initiative von Chinas Präsident Xi Jinping entstanden. Sie soll mithilfe von Infrastrukturinvestitionen die ökono­mische und soziale Entwicklung in den beteiligten Ländern voranbringen. China hat in den vergangenen vier Jahrzehnten massiv in die eigene Infrastruktur investiert. Das hat den Weg geebnet für die Entwicklung von ­einem armen Land zur zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt. Von dieser Erfahrung sollen andere asiatische Länder und der Rest der Welt profitieren. Dafür stellt China beträchtliche Ressourcen zur Verfügung.

Es gibt ein zweites großes Infrastrukturprojekt von Präsident Xi, die Seidenstraßen-Initiative (englisch: Belt and Road ­Initiative, kurz BRI). Sie haben mal gesagt, ­AIIB und Belt and Road seien wie zwei ­Motoren eines Flugzeugs, die dafür sorgen, dass es ohne Turbulenzen und in der rich­tigen Höhe fliegt. Was meinen Sie damit?
Als ich das gesagt habe, haben mich viele ­gefragt: Wer ist mit dem Flugzeug gemeint? Um das klar­zustellen: Das Flugzeug ist die ­internationale Gemeinschaft, nicht China.

Und wie hängen die Initiativen zusammen?
Sie verfolgen das gleiche Ziel, nämlich Länder besser zu vernetzen. Aber sie funktio­nie­ren völlig unterschiedlich. Die AIIB ist eine ­multilaterale Entwicklungsbank, die nach ganz bestimmten Regeln arbeitet, auf die sich die Mitgliedsländer geeinigt haben. Belt and Road ist eine Plattform, die eine engere Zusammenarbeit zwischen den teilnehmenden Ländern ermöglichen soll. Für beide ­Initiativen gilt: Wir werden unser Ziel nur ­erreichen, wenn es gelingt, möglichst viele Länder einzubeziehen.

China wird aber vorgeworfen, im Rahmen der Seidenstraßen-Initiative andere Länder mithilfe billiger Kredite von sich abhängig zu machen. Bekommen Sie den Vorwurf der "Schuldendiplomatie" auch zu hören?
Nein, wir haben dieses Problem nicht. Denn unser oberstes Prinzip ist, dass wir Kredite nur vergeben, wenn die Schuldensituation für das jeweilige Land oder den Projektini­tiator tragbar ist. Wir wollen keine Millionen­gräber hinterlassen und auf diese Weise unsere Ressourcen verschwenden. Im Übrigen hat Präsident Xi im April auf dem Belt-and-Road-Gipfel betont, dass durch die Initiative weder Schuldenprobleme noch Umweltschäden ­verursacht werden sollen. Das Entscheidende ist aber selbstverständlich die Umsetzung.

Zurück zur AIIB. China stellt mit 30 Milliarden Dollar mehr als 30 Prozent des ­Budgets der Bank zur Verfügung und hält 26,6 Prozent der Stimmrechte. Der Prä­sident, also Sie, wurde von China nominiert. Sie sind Chinese und Mitglied der Kommunistischen Partei. Es kann nichts gegen den Willen Chinas entschieden werden. Kann man da überhaupt von einer multilateralen Institution sprechen?
Es ist richtig, dass China 26,6 Prozent der Stimmrechte hat. Aber wenn der Rest der Mitgliedsstaaten nicht mit einer bestimmten Entscheidung einverstanden ist, dann können sie auch nicht dazu gezwungen werden. Am Anfang waren viele Länder skeptisch, ob sie sich an der AIIB beteiligen sollen. Aber sie konnten sich inzwischen davon über­zeugen, dass es China Ernst ist mit dem Bekenntnis zu einer echt multilateralen Entwicklungsbank. Inzwischen zählen viele ­europäische Länder zu unseren Mitgliedern, darunter auch Deutschland.

Das ist auch Ihnen zu verdanken. Sie gelten als ausgesprochen guter Kommunikator, der genau die richtigen Schlagworte verwendet, um die Bedenken der Skeptiker zu zerstreuen. Mitte Juli hat zum ersten Mal eine Jahresversammlung der AIIB außerhalb Asiens stattgefunden, in Luxemburg. Warum ist Europa für Sie so wichtig?
Für Asien gibt es kein nachhaltiges Wachstum ohne enge Zusammenarbeit mit Europa. Wir teilen denselben großen Kontinent. Deshalb müssen wir darüber reden, was uns ­verbindet. Europa und Asien haben traditionell ein enges wirtschaftliches Verhältnis. Unsere Arbeit ergibt ohne eine Beteiligung der europäischen Länder wenig Sinn.

Was unterscheidet die AIIB von Entwicklungsbanken wie der Weltbank oder der Asiatischen Entwicklungsbank ADB?
Wir vergleichen uns nicht mit der Weltbank oder der ADB. Und ich will auch keine Kritik an diesen Institutionen äußern. Sie wurden zum Teil vor sieben Jahrzehnten gegründet und verfolgen andere Ziele, wie etwa die Bekämpfung von Armut. Wir dagegen konzen­trieren uns auf Infrastrukturinvestitionen. Und wir wollen dabei so schnell und effizient sein wie ein privates Unternehmen.

Das bedeutet auch, dass Sie als Präsident viel mehr Macht und Befugnisse haben als die Chefs anderer Entwicklungsbanken. Sie dürfen bei bestimmten Projekten über Kredite von bis zu 200 Millionen US-Dollar allein entscheiden. Werden dadurch nicht Kontrollmechanismen ausgehebelt?
Es geht nicht um Macht, es geht um Verantwortung. In internationalen Institutionen besteht oft ein Verantwortungsvakuum. Wenn ein Projekt schiefgeht, beginnen die gegen­seitigen Schuldzuweisungen. Das soll bei uns anders sein. Präsident und Management tragen die Verantwortung. Das Aufsichtsgremium kontrolliert. Wie in der Privatwirtschaft.Wenn wir einen schwerwiegenden Fehler machen, können die Aufseher uns rauswerfen.

Was, wenn China an dem Präsidenten ­festhält? Dank des Vetorechts kann im ­Aufsichtsgremium keine Entscheidung ­gegen China getroffen werden.
Das stimmt nicht. China bestimmt nicht den Präsidenten dieser Bank. Der Präsident braucht eine Zweidrittelmehrheit. Das ist echte Verantwortung. Ich habe bisher übrigens nur einen einzigen Kredit selbst ge­nehmigt. Dabei ging es um ein Stromüber­tragungsprojekt in Bangladesch. Bis Jahresende kommt vielleicht noch ein weiteres ­dazu. Aber auch dafür gibt es klare Regeln.

Welche?
Immer wenn etwas zum ersten Mal vorkommt, muss das Aufsichtsgremium zustimmen. Das erste Projekt in einem Land, das erste in einem neuen Sektor. Das heißt auch nicht, dass ich alle Folgeprojekte im Alleingang genehmigen kann. Wenn ein Projekt besonders groß, relevant oder umstritten ist, brauche ich den Segen der Aufsichtsräte. Gerade im Infrastrukturbereich geht es oft um solche Großprojekte. Ich habe mich stark für die Form der klaren Verteilung von Verantwortung eingesetzt. Und ich habe unsere Mitglieder, auch die europäischen, davon überzeugen können, dass es der richtige Weg ist.

Die AIIB will so schneller über Kredite ­entscheiden. Heißt schneller, dass Sie bei der Finanzierung von Projekten weniger auf Umwelt- und Sozialstandards achten als die etablierten Entwicklungs­banken? Oder Betroffenen weniger Einspruchs­möglichkeiten einräumen?
Ich kenne diese Kritik. Aber wir haben Vorschriften für Umwelt- und Sozialstandards, ebenso für Entschädigungen bei Umsiedlungen. Wenn unsere Vorgaben weniger streng wären als bei Weltbank, ADB oder der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD), dann würden diese Institutionen keine Projekte mit uns gemeinsam finanzieren. Tun sie aber. Selbst diese Tatsache überzeugt die Skeptiker nicht. Aber so ist das eben. Man kann es nicht allen recht machen.

Sie haben vorher die Unterschiede zwischen der AIIB und den etablierten Entwicklungsbanken betont. Warum finanzieren Sie dann Projekte gemeinsam?
Wir sind gerade erst dabei, unser Geschäft aufzubauen. Durch die gemeinsam finanzierten Projekte lernen unsere Mitarbeiter, aber auch wir als Institution schnell und viel dazu. Außerdem sind die Infrastrukturprojekte, in denen wir uns engagieren, oft sehr ­teuer. Da geht es rasch um Größenordnungen von ein, zwei, drei Milliarden Dollar. ­Solche Mammutprojekte umzusetzen ist ­ohne Ko-Finanzierung nicht möglich.

Nach welchen Kriterien wählt die AIIB ihre Projekte aus? Besteht hier ein Zusammenhang mit der Seidenstraßen-Initiative?
Es gibt drei Grundregeln: 1. Das Projekt muss finanziell nachhaltig sein. 2. Es muss gut für die Umwelt sein und den Klimawandel bremsen. 3. Es muss breite Zustimmung bei der betroffenen Bevölkerung haben. Die Projektvorschläge kommen aus unseren Mitgliedsländern. Das sind inzwischen 100. Ob es sich dabei um ein Belt-and-Road-Projekt handelt, weiß ich oft nicht. Ich denke nicht in solchen Kategorien. Ich will sicherstellen, dass jedes Projekt, das wir unterstützen, ein gutes Projekt ist. Wenn wir dabei helfen, Belt-and-­Road-Projekte nachhaltiger zu machen, weil sie auf Basis unserer Standards finanziert werden, dann umso besser.

Künftig wollen Sie mehr eigene Projekte ­finanzieren. Dazu hat die AIIB im Mai ihre erste Dollaranleihe begeben und 2,5 Mil­liarden US-Dollar von Investoren einge­sammelt. Sind Sie damit zufrieden?
Ich habe mich über den Erfolg sehr gefreut. Die hohe Nachfrage nach dem Bond zeigt, dass wir immer mehr internationale Investoren von unserer Arbeit überzeugen können. Besonders stolz bin ich, dass wir viele europäische Investoren gewinnen konnten.



Jin Liqun wurde 1949 in der Stadt Changshu im Osten Chinas geboren. Aufgrund der Kulturrevolution musste er sein Studium abbrechen und arbeitete auf dem Land. Nach Ende der Umerziehungskampagne studierte Jin englische Literatur in ­Peking. Später absolvierte er ein Graduiertenprogramm mit Schwerpunkt Wirtschaft in Boston. 1980 begann er seine Karriere in der Ver­tretung des chinesischen ­Finanzministeriums bei der Weltbank in Washington. ­Innerhalb von zwei Jahrzehnten stieg er bis zum Rang des Vizeministers auf. 2003 wechselte er zur Asiatischen Entwicklungsbank. Zwischen 2008 und 2013 war er Chef­aufseher des chinesischen Staatsfonds CIC. Anschließend leitete er eine der größten privaten Investment­gesellschaften Chinas, CIIC. 2014 wurde er mit dem Aufbau der Asiatischen Infrastrukturinvestmentbank betraut. Seit 2016 ist er deren Präsident.



AIIB

Die Asiatische Infrastruktur­investmentbank (AIIB) entstand auf Initiative von Chi­nas Präsident Xi Jinping. Ihre Gründung 2016 gilt als Reaktion Chinas auf die Dominanz der USA und Europas in den internationalen Institutionen Weltbank und Internationaler Währungsfonds (IWF). China, aber auch andere Schwellenländer fühlen sich dort nicht ihrer Wirtschaftskraft entsprechend repräsentiert. Inzwischen zählt die AIIB 100 Mitglieder, darunter viele europäische Länder wie Deutschland, Frankreich und Großbritannien. Die USA und Japan haben sich gegen eine Mitgliedschaft entschieden. Die AIIB finanziert Infrastrukturprojekte in Asien, aber auch im Rest der Welt. Derzeit umfasst das Portfolio 45 Projekte in 17 Ländern mit einem Gesamtvolumen von 8,5 Milliarden US-Dollar.