Als André Kolbinger das erste Mal Börsenluft schnuppert und mit Aktien spekuliert, ist er gerade 16 Jahre alt geworden. Es ist die Zeit kurz nach der Wende, und der gebürtige Ostdeutsche findet Gefallen an steigenden Kursen und großen Zahlen. Schnell steht für ihn fest, wie sein beruflicher Werdegang später einmal aussehen wird. "Ich mache etwas mit Bank und Börse", prophezeit Kolbinger.
Als 23-Jähriger begeistert er schließlich einen befreundeten Bankangestellten und die Praktikantin einer Brokerfirma für seine Idee, ein eigenes Finanzportal auf die Beine zu stellen. Börsennews, Kurse und Kurzanalysen sollten drinstehen, frei zugänglich für jeden. "Das gab es damals so noch nicht", erzählt Kolbinger im Gespräch mit BÖRSE ONLINE.
Die drei Jungunternehmer kratzen knapp 30 000 Mark Startkapital zusammen und beziehen im Januar 1998 mit einem Programmierer, zwei Fernsehern, einer Satellitenanlage und fünf Computern ein 25-Quadratmeter-Büro in Düsseldorf. "Mein Bruder half uns beim Verkabeln", erinnert sich der Jungbörsianer. Auch die Eltern unterstützen das Projekt. Es ist die Geburtsstunde von Wallstreet Online.
Drei Jahre später beschäftigt Kolbinger über 100 Mitarbeiter. Die Direktbanken Consors und Comdirect kauften bei ihm Inhalte für ihre Website. Durch eine Kooperation mit der SEB Bank konnte man direkt über Wallstreet Online Aktien ordern. In Chats und Foren, bis heute das Herzstück des Finanzportals, tauschten sich täglich Tausende von Nutzern über Klatsch und Trends der Börsenwelt aus.
Börsengang mit Verspätung
2001 will Kolbinger Wallstreet Online an die Börse bringen. Doch das Marktumfeld war schwierig geworden, die Technologieblase am Neuen Markt war geplatzt, die Aktienkurse fielen kräftig. Es war der Anfang vom Ende für den Neuen Markt. Das Ende von Wallstreet Online war es nicht. Der geplante Börsengang verzögerte sich allerdings um einige Jahre. Erst am 22. Februar 2006 wagte das Finanzportal schließlich den Gang aufs Parkett.
In den folgenden Jahren durchlebten das Unternehmen und seine Aktionäre Höhen und Tiefen. Der Aufbruchstimmung in den Jahren nach dem Neuen Markt folgte 2008 und 2009 die Finanzkrise und mit ihr wieder ein Absturz. Danach setzte erneut Aufbruchstimmung ein, die - nur unterbrochen vom kurzen Corona-Crash - praktisch bis heute anhält.
Mittlerweile herrscht an den Finanzmärkten längst nicht mehr nur Aufbruch-, sondern vielerorts bereits Goldgräberstimmung. Dank der anhaltend niedrigen Zinsen notieren Aktienmärkte rund um den Globus auf Rekordniveau. In einigen Bereichen, etwa rund um Wasserstoffaktien oder Kryptowährungen, sind Euphorie und Kurssprünge mitunter so groß, dass sich erfahrene Börsianer immer öfter an die Zeit des überhitzten Neuen Marktes erinnern. Der neue Börsenhype bringt jetzt jede Menge Neulinge hervor.
Junge und oft unbedarfte Anleger finden immer mehr Freude am Aktienhandel. Sie traden über neue Direktbanken und Neobroker wie Robinhood oder Trade Republic zum Teil auf Teufel komm raus Aktien und treiben die Kurse in bislang ungeahnte Höhen, wie etwa die jüngsten Kurskapriolen rund um die Gamestop-Aktie zeigen. Das freundliche Börsenumfeld und die neue Lust der Anleger spielen auch Wallstreet Online in die Karten.
Wandel zum Onlinebroker
Das Unternehmen ist längst kein reines Finanzportal mehr, sondern hat sich den neuen Marktgegebenheiten angepasst. "Wir haben in den vergangenen 15 Jahren einen Wandel in drei Schritten vollzogen", sagt Kolbinger. Wallstreet Online habe sich von der reinen Online-Community über eines der reichweitenstärksten verlagsunabhängigen Finanzportale hin zum margenträchtigen Onlinebroker entwickelt. Gemeint ist damit der Smartbroker, die neue Tochtergesellschaft von Wallstreet Online. Bei ihr brummt das Geschäft. Ähnlich stark wie bereits die Zahlen der Konkurrenten Flatexdegiro oder Lang & Schwarz ausfielen, dürfte sich das Brokerage von Wallstreet Online präsentieren. Es werde starke Jahresendzahlen 2020 mit hohen Kundengewinnen und Handelszahlen liefern und sollte auch im Januar 2021 hohes Wachstum zeigen, heißt es in Branchenkreisen. Marius Fuhrberg, Analyst bei Warburg Research, schätzt, dass sich die Kundenzahl des Smartbrokers im laufenden Jahr auf rund 160 000 Kunden gegenüber dem Vorjahr fast verdoppeln wird, und das bis 2024 dann nochmals. Würde man jeden Kunden konservativ mit 2000 Euro bewerten, wäre Wallstreet Online dann allein dadurch mehr als 600 Millionen Euro wert.
Rechnet man das ebenfalls gut laufende Plattformgeschäft und die steigenden Werbeumsätze hinzu, ist mittelfristig eine Bewertung auf Milliardenniveau denkbar. Die Marketingkosten für neue Kunden werden zunächst die Marge und das Ergebnis etwas drücken, ab 2022 und in den Folgejahren könnte der Smartbroker jedoch dank hoher Skaleneffekte und Margen von rund 50 Prozent zum echten Wachstumstreiber werden.
Firmengründer und Großaktionär Kolbinger blickt jedenfalls optimistisch in die Zukunft: "In zehn Jahren ist Wallstreet Online der größte und wichtigste Onlinebroker Deutschlands." Behält Kolbinger mit dieser Prophezeiung recht, dürfte die Aktie dann vermutlich in ganz anderen Kursregionen notieren.