Die ökonomischen Supermächte driften auseinander. China stellt sich immer mehr gegen die G7-Staaten. Aus dem BRICS-Bund könnte BRICS+ werden. Mit kaum vorhersehbaren Folgen. Von Martin Blümel
Das Modell China wankt. So scheint es zumindest. Das selbst gesteckte Ziel von 5,5 Prozent Wachstum in diesem Jahr wird man wohl deutlich verfehlen — der Internationale Wäh- rungsfonds (IWF) traut der Volksrepublik 2022 gerade mal 2,8 Prozent Plus zu. Dies wäre nach dem Coronajahr 2020 erst das zweite Mal seit vier Jahrzehnten, dass das Wachstum so niedrig ausfällt.
Besonders auffällig ist dabei, dass gleichzeitig die Dynamik in den benachbarten Ländern viel größer ist. Indien beispielsweise soll laut IWF um 6,9 Prozent wachsen, also mehr als doppelt so viel. Vietnam um sieben Prozent, Malaysia um 5,4 Prozent — und sogar für Bangladesch erwartet der IWF mit 7,2 Prozent mehr Schwung. Die Wirtschaft in der gesamten Region — ohne China — soll laut Weltbank um 5,3 Prozent wachsen.
China in der Krise
Hauptgrund der China-Krise ist wohl die Null-Covid-Strategie: Jeder noch so kleine Ausbruch soll mit Lockdowns, Massentests und Quarantäne erstickt werden. Ein wohl aussichtsloses Unterfangen. Und schlecht für die Konjunktur. Dass die Dinge nicht so laufen wie geplant, weiß man in Peking. Nur laut darüber sprechen will man nicht. So wurden gar aktuelle Daten zur Entwicklung der Wirtschaft im dritten Quartal kurzerhand eine Woche zurückgehalten: Nichts sollte den Parteitag der Kommunistischen Partei in Peking stören, der gerade über die Bühne ging.
Denn dort ließ sich — als erster chinesischer Machthaber seit Mao Zedong überhaupt — der 69-jährige Xi Jinping eine dritte Amtszeit genehmigen. Ein bemerkenswerter Vorgang. Auch weil, anders als damals unter Mao, China heute — trotz der aktuellen Probleme — längst eine wirtschaftliche und militärische Großmacht ist, die den Globus nach ganz eigenen Vorstellungen ordnen will. Noch immer gilt die vor Jahren ausgegebene Parole, dass die Volksrepublik bis 2049 in allen Kategorien — wirtschaftlich, militärisch, technologisch und monetär — zur absoluten Weltmacht Nummer eins aufsteigen soll. Damit das gelingt, werden seitens Peking stetig Allianzen geschmiedet.
„China hat eine langfristige, konfuzianistische Sicht und bedenkt immer auch die sekundäre und tertiäre Wirkung von Entscheidungen“, hat Folker Hellmeyer, Chefökonom der Netfonds AG, einmal so treffend gesagt. Und die Stoßrichtung abei ist eindeutig: Man stellt sich immer mehr gegen die Vorherrschaft der G7 unter Führung der USA.
Die BRICS-Staaten
Und damit ist China nicht allein. Die wichtigsten multilateralen Gremien, welche diese Ambitionen stützen, sind bisher die losen Kooperationen der sogenannten BRICS-Staaten — Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika — und die Shanghai Cooperation Organization (SCO). Allen teilnehmenden Ländern ist dabei vor allem die Dominanz der US-Währung ein Dorn im Auge. Sie wollen sich vom Dollar lösen und ein Gegengewicht zum Internationalen Währungsfonds und zur Weltbank schaffen. Daher wendet man sich auch politisch ab. Als die BRICS-Staaten im Juni zu ihrem virtuellen Gipfel zusammenfanden, war man sich einig, dass keines der teilnehmenden Länder die Maßnahmen des Westens gegenüber Russland mittragen will. Chinas Staatschef Xi bezeichnete die von den USA und der EU verhängten Sanktionen gegen Russland als „Bumerang“ und als „zweischneidiges Schwert“. Und in der Tat: Seit Beginn des Ukraine-Kriegs kaufen Indien und China deutlich mehr Rohöl von Russland — und profitieren dabei von den wegen der Sanktionen zeitweise gesunkenen Preisen.
Das hat man registriert im Rest der Welt. Der G7-Staatenbund, angeführt von den USA, hat trotzdem nach wie vor den Anspruch, den Globus politisch und wirtschaftlich zu führen. Weil sich aber in vielen Bereichen inzwischen die Gewichte in Richtung anderer Weltregionen verschoben haben, ist dieses Selbstverständnis eigentlich nicht mehr zeitgemäß. Klar, dass da die Aktivitäten der BRICS im Allgemeinen und Chinas im Speziellen gerade den Amerikanern ein Dorn im Auge sind.
Das Ende einer Freundschaft?
Jüngstes Beispiel ist die Annäherung zwischen China und Saudi-Arabien. Die sieht man in Washington mit Besorgnis. Denn gerade eben hat das ansonsten den USA gegenüber bislang sehr loyale Ölförderland in den OPEC-Gremien einer deutlichen Drosselung der Ölförderung zugestimmt. Zugunsten Russlands. US-Präsident Joe Biden drohte daraufhin mit „Konsequenzen“, was wiederum den Saudi-Prinzen Mohammed bin Salman zu Gegendrohungen veranlasste. Die Beziehungen der beiden Länder sind damit auf einem neuen Tiefpunkt angelangt.
Insgesamt scheint es so, als sei Peking dabei, dem Westen Verbündete „abzuwerben“, um das geopolitische Gleichgewicht zu seinen Gunsten zu verschieben. Bestes Beispiel ist eben jenes Saudi-Arabien, das schon beim BRICS-Gipfel im Juni als Beobachter eingeladen war — inzwischen wird das Land als Beitrittskandidat gehandelt. Aus BRICS könnte so ganz schnell BRICS+ werden, denn auch der Iran gilt als potenzieller Kandidat für den Staatenbund. Der Rohstoffreichtum Saudi-Arabiens ist für China und Indien dabei von großer Bedeutung, ebenso wie das Erdöl aus dem Iran. Beitrittsgerüchte gibt es auch um die Türkei und Ägypten. Dazu Argentinien. Sollte es China gelingen, vor allem die Länder des Nahen Ostens einzubinden, brächte dies das geopolitische Gefüge ordentlich durcheinander.
Die Idee eines neuen Währungskorbs
Die Abkehr vom „Petrodollar“, also dem US-Dollar als führende Transaktionswährung für Rohstoffe, ist dabei ein wichtiger Punkt. Saudi-Arabien etwa verhandelt derzeit mit China über Erdöllieferungen in chinesischen Yuan. Im Gespräch ist immer wieder auch ein Währungskorb jener Länder, die überwiegend Rohstoffe exportieren. Denn dass große Dollar-Bestände kein Ruhekissen sind, weiß man spätestens, seit der Westen die Devisenreserven der russischen Notenbank ein- gefroren hat. Gerade in Peking schrillen die Alarmglocken, verfügt man doch inzwischen über mehr als 3,3 Billionen Dollar an Dollar-Reserven. Hauptsorge: Was wäre denn, wenn diese durch eventuelle Sanktionen des Westens — beispielsweise wegen Chinas Taiwan-Politik — ebenfalls eingefroren würden? Auch das internationale Zahlungssystem wollen die BRICS umgestalten. Und auch hier geht China voran: Die US-Kreditkartenanbieter Visa und Mastercard wurden vom chinesischen Markt ausgeschlossen, während Peking mit „Unionpay“ eine eigene Kreditkarten-Organisation gegründet hat. Mit Folgen: Im Zuge der Sanktionen wollen nun bereits auch russische Banken dieses System nutzen.
China wird oft als stärker als die USA und Europa wahrgenommen
Dass sich China neu ausrichtet, bestätigen auch Politikwissenschaftler wie der Sinologie Sebastian Heilmann. „Man will weniger abhängig werden von den Wertschöpfungsketten mit dem Westen.“ Die Hauptrichtung der Wirtschaftspolitik ginge dabei seit Jahren klar in Richtung Schwellen- und Entwicklungsländer, so Heilmann jüngst in einem Interview mit dem „Deutschlandfunk“. Mittel zum Zweck ist der Aufbau von Infrastrukturen wie Straßen und Telekommunikation gerade in Ländern Afrikas und Lateinamerikas. Auch das Projekt der „Neuen Seidenstraße“ zeugt davon. Ausnahmen bestätigen den Trend: So will China ja auch Teile des Hamburger Hafens kaufen.
Die Volksrepublik geht dabei geschickt vor: Weil sie die dortigen Volkswirtschaften durch den Aufbau von Infrastruktur und Kommunikation unterstützt — immer basierend auf dem Prinzip der Nichteinmischung in die Landespolitik —, stehen viele Länder dieser Entwicklung sehr auf- geschlossen gegenüber. In Afrika, Lateinamerika, aber auch in Asien achtet man dadurch China inzwischen oft stärker als die USA und die ehemaligen Kolonialmächte Europas.
Dieser Artikel erschien zuerst in BÖRSE ONLINE 43/2022. Hier erhalten Sie einen Einblick ins Heft.