Einst als äußerst lukrativ geschätzt, bereiten russische Wertpapiere derzeit nichts als Sorgen. Des Dramas bislang letzter Akt: Gazprom hat die ADRs gekündigt. Was das für betroffene Anleger heißt. Von Stephan Haberer

Für manchen kam es aus heiterem Himmel, doch eigentlich war es absehbar: Die Emittentin von Gazprom-ADRs, die Bank of New York Mellon, hat diese ADRs zum 3. August 2022 gekündigt. Die Bank hatte letztlich keine andere Wahl. Denn bereits am 16. April 2022 verabschiedete die Russische Föderation ein Gesetz, das es russischen Unternehmen verbietet, ihre Aktien mithilfe von Hinterlegungs- scheinen wie American Depository Receipts (ADRs) oder Global Depository Receipts (GDRs) handelbar zu machen.

Die Folge: Gazprom hat am 29. April 2022 den Vertrag mit der BNY Mellon zur Ausgabe von Gazprom-ADRs (ISIN: US3682872078; WKN: 903276) gekündigt. Was nun die Bank dazu zwingt, ihrerseits die ADRs zu kündigen. Laut eigener Ankündigung will BNY Mellon anschließend die in einem russischen Depot verwahrten Originalaktien verkaufen und den Erlös an die ADR-Besitzer auszahlen. Allerdings ist im ADR-Vertrag mit Gazprom vorgesehen, dass der Verkauf erst ein Jahr nach Kündigung der ADRs beginnen darf.

Aber was, wenn Besitzer von Gazprom-ADRs das nicht wollen? Dann haben sie bis zum 3. August 2023 das Recht, einen Umtausch ihrer ADRs in Gazprom-Aktien zu beantragen. Klingt erst mal einfach, ist es aber de facto nicht. Denn russische Gesetze und EU-Sanktionen machen den Umtausch praktisch unmöglich.

So dürfen aufgrund der Kremlgesetze russische Aktien nur in russischen Depots gelagert werden. Und da wird es schwierig. Denn mit dem sechsten Sanktionspaket der EU wurde auch die russische Verwahrstelle NSD (National Settlement Depository) auf die Sanktionsliste gesetzt. Seit dem 3. Juni darf kein EU-Unternehmen mehr Geschäfte mit der NSD machen - auch Clearstream und Euroclear nicht, die zentralen Verwahrstellen für Wertpapiere, die an deutschen Börsen gehandelt werden. Noch schlimmer für ADR-Besitzer: "Laut den EU-Sanktionen ist nicht nur der (Ver-)Kauf der betroffenen Wertpapiere und Geldmarktinstrumente verboten, sondern auch deren Übertragung", schrieb die Bundesbank im Juni.

Auch der Umtausch von ADRs in Aktien sei derzeit nicht erlaubt. Jedoch heißt es in dem Bundesbankschreiben einschränkend, dies gelte nur für ADRs und Aktien, die nach bestimmten Zeitpunkten emittiert wurden - für Gazprom-Aktien und -ADRs wäre dies der 1. August 2014.

Heißt für Anleger, die in russische ADRs investiert haben: Sie können diese wegen EU-Restriktionen nur umwandeln, wenn sowohl Originalaktie als auch die ADRs in ihren Depots vor dem betreffenden Stichtag begeben wurden.

Doch es kommt noch schlimmer. Auf Nachfrage heißt es etwa von Comdirect: "Aufgrund geltender EU-Sanktionen im Zusammenhang mit der Einbindung des Nationalen Zentralverwahrers (NSD) in den Umtauschprozess dürfen wir derzeit keine Aufträge von Kunden annehmen und weiterleiten." Im Klartext: Unabhängig vom Emissionszeitpunkt der Aktien und ADRs kann derzeit kein deutscher Anleger russische ADRs in Aktien tauschen. Wann sich dies ändert, weiß keiner.

Im Internet bieten Rechtsanwälte zwar Hilfe bei der Eröffnung russischer Depots und beim Umtausch der ADRs an. Dabei sind jedoch Mindestanforderungen zu erfüllen: Mal wird der Anwalt erst ab einem Bestand von mindestens 1000 ADRs aktiv, mal wird ein Wert der ADRs von mindestens 50 000 Euro vorausgesetzt. Zudem erschließt sich nicht, wie diese Anwälte das schaffen wollen, woran sich Banken, Broker und spezialisierte Sozietäten bereits seit Wochen vergeblich versuchen.

So hat etwa die global tätige US-Großkanzlei Morgan Lewis für institutionelle Investoren eine Task Force mit mehr als 20 Juristen aufgestellt, die sich ausschließlich um dieses Thema kümmern. Selbst diese Spezialisten gestehen, dass ihnen derzeit "viele Aspekte unklar sind". Unter anderem die Frage: "Wird es für ADR-Inhaber möglich sein, ein russisches Depot zu eröffnen, ohne persönlich erscheinen zu müssen oder einen Anwalt vor Ort zu beauftragen?" Für Privatanleger mit ein paar ADRs im Depot ein teurer Spaß.

Drei Alternativen für ADR-Besitzer


Welche Möglichkeiten haben Gazprom-Anleger noch? Nummer 1: Sie reagieren auf das Schreiben ihrer Depotbank nicht. Dann werden die den ADRs zugrunde liegenden Gazprom-Aktien von der BNY Mellon nach Jahresfrist verkauft - zu welchem Kurs auch immer. Heißt: Anleger fahren mit hoher Wahrscheinlichkeit Verlust ein. Dieser lässt sich dann wenigstens beim Fiskus steuerlich geltend machen.

Nummer 2: Immer wieder bieten westliche Investoren an, russische ADRs von Privatanlegern zu Niedrigstkursen von ein paar Euro-Cent zu erwerben. Depotbanken sind verpflichtet, solche im Bundesanzeiger erschienenen Offerten (ungeprüft) an betroffene Anleger weiterzuleiten. Diese Investoren, die auf einen schnellen Rubel aus sind, scheinen selbst jedoch die Lage nicht genau analysiert zu haben: Laut russischem Gesetz gilt als Eigentümer der Originalaktien der- jenige, der am 27. April die zugehörigen ADRs im Depot hatte. Sie kaufen also für sie selbst wertlose Papiere - warum auch immer. Auch für die ADR-Inhaber macht die Annahme eines solchen Angebots ökonomisch keinen Sinn, außer sie wollen Gewinne aus anderen Aktien- oder ADR-Geschäften realisieren und benötigen sofort Verluste zum Gegenrechnen, um die Abgeltungsteuerlast zu drücken.

Nummer 3: Anleger verlangen von BNY Mellon den Umtausch ihrer ADRs in Gazprom-Aktien. Angenommen, es gelingt ihnen - trotz aller geschilderten Widrigkeiten -, die Aktien auf ein Depot in Russland zu übertragen, dann sind diese dort erst einmal blockiert. Denn ausländische Investoren dürfen laut russischen Gesetzen, die nach Beginn des Ukraine-Kriegs erlassen wurden, keine russischen Aktien verkaufen. Sie erhalten für diese auch keine Dividenden oder anderen Erträge. Die Aktien liegen also in einem gesperrten Depot, die Erträge fließen auf ein gesperrtes Konto. Und bis der russische Gesetzgeber beides wieder freigibt, kann es Jahre dau- ern. Auch keine schöne Alternative.

Und wie sieht es bei anderen ADRs auf russische Aktien aus? Im Prinzip ganz ähnlich wie bei Gazprom. So haben auch Lukoil, Norilsk Nickel, Ozon, Rosneft und Sberbank ihre ADR-Programme gekündigt. Die Situation unterscheidet sich nur hinsichtlich der involvierten westlichen ADR-Banken und der geltenden Fristen.

Gegenüber der russischen Nachrichtenagentur Interfax hat inzwischen der stellvertretende Finanzminister Russlands, Alexej Moisejew, zwar angekündigt, man bereite ein Gesetz vor, das den Umtausch russischer ADRs in Originalaktien ohne Mitwirkung einer einzigen westlichen Gegenpartei ermögliche. Details, wie das gehen solle, nannte er jedoch ebenso wenig wie einen Zeitrahmen.

Bleibt als trauriges Fazit für betroffene Anleger: Nicht aktiv zu werden und abzuwarten, was mit dem Verkauf der ADRs durch BNY Mellon in einem Jahr erlöst wird, scheint die Variante zu sein, die noch den geringsten Verlust bringt.