BERLIN (dpa-AFX) - Der erst langsam abebbende Corona-Dämpfer für die Autoindustrie zeigt derzeit eines ganz deutlich: In der Pandemie ist die Anschaffung eines Neuwagens bei vielen Menschen derzeit nicht der erste Gedanke. Ein Umstand, der womöglich auch den Machern des Online-Gebrauchtwagenhändlers Auto1 zugute kommen kann. Nach dem vielbeachteten Börsengang Anfang Februar haben nun die ersten Analysten ihre Meinungen zum Berliner Start-up gefällt. Ihr Urteil ist überwiegend positiv. Zur Lage des Unternehmens, was die Experten sagen und was die Aktie macht.
ZUR LAGE DES UNTERNEHMENS:
Die 2012 von Vorstandschef Christian Bertermann und Aufsichtsratsmitglied Hakan Koc gegründete Auto1 Group war in den vergangenen Jahren zügig gewachsen. Nun will das Start-up auch mit Hilfe des Börsengangs die nächste Stufe seiner Entwicklung erklimmen. Aus dem Börsengang floss dem Unternehmen ein Erlös von rund einer Milliarde Euro zu. Der Rest geht an die Altaktionäre, zu denen neben Bertermann und Koc auch der japanische Technologieriese Softbank gehört - die Japaner waren 2018 bei Auto1 eingestiegen.
Die Erlöse aus dem Börsengang will Auto1 unter anderem in den Ausbau seines Privatkundengeschäfts stecken - womit eine Aufholjagd beginnt. Denn noch macht das Geschäft mit privaten Kunden bei Auto1 nur einen Bruchteil aus. 2019 verkaufte das Unternehmen mehr als 615 000 Fahrzeuge. Doch nur etwa 10 000 gebrauchte Fahrzeuge wurden über die Plattform "Autohero" veräußert, die sich an private Interessenten richtet. Diese bekommen ihr Auto direkt nach Hause geliefert oder zu einer passenden Abholstation in der Nähe.
Im Großhandel ist Auto1 deutlich weiter. Das Unternehmen betreibt unter diesem Namen inzwischen die nach eigenen Angaben größte Großhandelsplattform für Gebrauchtwagen in Europa. Angeschlossen sind mehr als 60 000 gewerbliche Händler in mehr als 30 Ländern, die die Plattform über Online-Auktionen für den An- und Verkauf nutzen.
Im Geschäft mit privaten Kunden ist bislang die Zahl der Märkte mit neun ebenfalls noch weitaus überschaubarer. In Deutschland ist Auto1 auch mit der Marke "wirkaufendeinauto" unterwegs, für die der Börsenneuling vor allem im Fernsehen reichlich Werbung schaltet. Private Autoverkäufer können bei über 400 Abgabestationen in Europa ihr Fahrzeug zum vorher online festgesetzten Preis losschlagen.
Durch großen Einfallsreichtum sind die Werbeslogans bislang zwar noch nicht aufgefallen - doch vielleicht ändert sich auch das, denn auch beim Marketing will Auto1 dank der Gelder aus dem Börsengang künftig nachlegen.
So will der Vorstand um den studierten Betriebswirt Bertermann eine Flotte mit gläsernen Trucks aufbauen, die die Gebrauchtwagen für das "besondere Kundenerlebnis" ausliefern, wie er jüngst in einem Zeitungsinterview sagte. Das erklärte Ziel des Unternehmensgründers: Was im Großhandel geglückt ist, soll auch im Privatkundengeschäft klappen, Autohero soll zum führenden Einzelhändler für Gebrauchtwagen in Europa aufsteigen.
Wie viele Internet-Startups sieht auch Bertermann die große Chance im Netz. Noch kaufen die meisten Menschen ihren Gebrauchtwagen zwar lieber direkt beim Händler. Doch mit dem Trend zum Online-Handel sieht der Unternehmenschef den Vorteil auf seiner Seite. Beim Buhlen um die Kundschaft ist Auto1 online aber nicht allein: Auch die schon seit Längerem bekannten Vermittlerportale Autoscout24 und mobile.de sind im Netz präsent, und mit Heycar aus dem Volkswagen-Konzern hat ein weiteres Unternehmen vor allem Online-Wachstum im Auge, auch wenn die Geschäftsmodelle teils anders aussehen.
Derweil schreiben die Berliner noch Verluste. Für 2019 stand ein Fehlbetrag von rund 120 Millionen Euro in der Bilanz bei einem Umsatz von knapp 3,5 Milliarden Euro. Für 2020 hat das Unternehmen seine endgültigen Zahlen noch nicht veröffentlicht. Allerdings stellte Auto1 im Börsenprospekt einen Umsatzrückgang auf 2,8 Milliarden Euro in Aussicht, denn das Corona-Jahr war auch an den Berlinern nicht spurlos vorüber gegangen.
Unterdessen wird am Markt spekuliert, dass Softbank den Börsengang nach der festgelegten Haltefrist nutzen könnte, seine Beteiligung über kurz oder lang zu verringern oder zu verkaufen. So hat jüngst bereits der bisherige Vertreter von Softbank im Aufsichtsrat das von Industrie-Ikone Gerhard Cromme geleitete Gremium verlassen.
DAS SAGEN ANALYSTEN:
Seit Anfang dieser Woche ist die Sperrfrist für die Veröffentlichung von Studien nach dem Börsengang ausgelaufen. Die sieben von der Finanznachrichtenagentur dpa-AFX erfassten Experten raten mehrheitlich zum Kauf, nämlich fünf. Zwei sagen halten, eine Verkaufsempfehlung gibt es nicht. Das durchschnittliche Kursziel liegt bei rund 55 Euro und damit etwas über dem aktuellen Niveau - die Spanne reicht dabei von 43,50 Euro (Barclays) bis zu 65 Euro (RBC Capital).
Die meisten Experten bescheinigen Auto1 zwar gute Zukunftsperspektiven, Uneinigkeit herrscht jedoch unter den Analysten darin, ob dies angemessen im Aktienkurs berücksichtigt ist. Nach Einschätzung von Analystin Sherri Malek vom US-Analysehaus RBC ist das noch nicht der Fall, weshalb sie die Bewertung der Aktie mit einer Kaufempfehlung aufnahm und aktuell das höchste Kursziel ausruft.
Malek sieht den Online-Gebrauchtwagenhändler gut positioniert, den europäischen Markt zu dominieren. Das Unternehmen verfüge über einen einzigartigen Vorteil. Es decke durch seine bereits bestehenden Plattformen die komplette Kette ab: Also den An- und Verkauf sowohl bei Händlern als auch bei privaten Endkunden. Dies sei ein wichtiger Pluspunkt im Wettbewerb. Hinzu komme das auf Kosteneffizienz getrimmte Logistiknetzwerk. Zudem verfüge das Unternehmen über die größte Datenbank für Gebrauchtwagen, wodurch sich Auto1 einen weiteren Vorteil in puncto Preisfestlegung sichere.
Für die drei Jahre bis 2023 sagt Malek Auto1 einen Umsatzanstieg um im Schnitt 36 Prozent pro Jahr voraus. Dabei führt RBC-Branchenkennerin das enorme Potenzial an, das das Internet dem Gebrauchtwagenhandel biete. Branchendaten zufolge dürfte der Privat-Gebrauchtwagenmarkt bei einem aktuell geschätzten Volumen von rund 440 Milliarden Euro bis 2025 jährlich im Schnitt um etwa 5 Prozent wachsen, schreibt Malek. Aktuell liege die Online-Durchdringung gerade einmal bei einem Prozent, dieser Wert dürfte durch das sich ändernde Konsumentenverhalten aber anziehen.
Auch Barclays-Analyst Andrew Ross bestreitet diese positive Ausgangssituation nicht, dennoch ist er skeptischer. Mit 43,50 Euro setzt er derzeit das niedrigste Kursziel an und empfiehlt Aktionären mit seinem Votum "Equal-weight", an der Seitenlinie zu bleiben. Mit seiner Technologieplattform, den logistischen Kapazitäten und der schieren Größe des Unternehmens sei der Online-Gebrauchtwagenhändler gut positioniert, um daraus Profit zu schlagen, so Ross. Für diese Perspektive zahlten die Anleger allerdings schon einen ordentlichen Preis, begründete er sein Votum.
Nun gelte es für Auto1, sich erst einmal mit der Plattform Autohero zu beweisen, bevor er - Ross - hier ein besseres Votum vergeben könne. Maßgeblich werde also zunächst einmal sein, wie sich die Zahl der an Privatkunden verkauften Autos dort entwickeln werde. Ebenso werde der Bruttogewinn pro verkauftem Fahrzeug bis 2022 für beide Plattformen - also auch im Geschäft mit Händlern - eine entscheidende Kennziffer.
DAS MACHT DIE AKTIE:
Auto1 hatte Anfang Februar mit einem Volumen von rund 1,8 Milliarden Euro einen der größten Börsengänge hierzulande der vergangenen Jahre hingelegt und damit die Erwartungen vieler Experten übertroffen. Auch wenn die Höchstkurse des ersten Handelstages nicht gehalten werden konnten, ist der Börsengang bisher ein voller Erfolg.
Zuletzt lag der Kurs der Aktie mit rund 50 Euro fast ein Drittel über dem Ausgabepreis von 38 Euro. Am ersten Handelstag (4. Februar) war die Aktie bis auf 56,76 Euro geklettert, fiel dann aber in den Wochen danach bis auf 43 Euro Anfang März zurück. Seitdem erholt sich das Papier wieder. Neuen Schwung brachten diese Woche die ersten Studien großer Investmentbanken, nachdem die Sperrfrist für Analysen nach dem Börsengang ausgelaufen war.
Mit dem aktuellen Kurs wird das Unternehmen mit etwas mehr als zehn Milliarden Euro bewertet. Der Streubesitz - also die frei handelbaren Aktien - beträgt nach Angaben des Unternehmens 44 Prozent. Der Wert dieses Anteils, der über die Indexaufnahme entscheidet, liegt damit derzeit bei mehr als vier Milliarden Euro. Damit ist Auto1 ein MDax-Kandidat
Mit zusammen rund 26 Prozent halten die beiden Unternehmensgründer Christian Bertermann und Hakan Koç nach wie vor den größten Anteil der Aktien. Knapp 17 Prozent liegen bei dem japanischen Technologieinvestor Softbank
Quelle: dpa-Afx