CHICAGO (dpa-AFX) - Erst das Desaster um die 737 Max, dann die Corona-Krise und zuletzt teure Rückschläge bei den Großraumjets: Beim US-Flugzeugbauer Boeing
DAS IST LOS BEI BOEING:
Als die Pandemie die Luftfahrtbranche 2020 in eine historische Krise stürzte, steckte Boeing bereits in großen Schwierigkeiten. Nach dem Absturz zweier Mittelstreckenjets vom Typ 737 Max mit 346 Toten hatten Behörden in aller Welt im März 2019 Flugverbote für den Verkaufsschlager des US-Konzerns verhängt. Boeing konnte neue Maschinen der Reihe 20 Monate lang nicht ausliefern und stoppte sogar die Produktion. Airlines verlangten Schadenersatz, den Hersteller kostete das Desaster Milliarden - einschließlich einer Strafe von 2,5 Milliarden Dollar. Der damalige Konzernchef Dennis Muilenburg musste seinen Hut nehmen.
Die Corona-Krise erwischte Boeing dann besonders hart: Denn der Einbruch des Flugverkehrs traf besonders die Langstreckenverbindungen mit Großraumjets - ein Segment, in dem der US-Konzern seinem europäischen Rivalen immer noch voraus war. Boeing hat die Produktion nun auch in diesem Bereich stark zurückgefahren, weil Airlines bestellte Maschinen erst später abnehmen. Branchenvertreter erwarten, dass sich die Nachfrage auf der Langstrecke deutlich langsamer erholt als auf der Kurz- und Mittelstrecke.
Kleinere Langstrecken-Flugzeuge hat Boeing nicht im Angebot. Nun könnten die Europäer in diese Lücke stoßen - mit dem Airbus A321XLR, der Langstrecken-Version des Mittelstreckenjets A321neo. Der Jet soll in Dienst gehen und etwa Transatlantik-Flüge mit weniger Fluggästen rentabel machen.
Derweil hat sich Boeing weitere Probleme eingebrockt. Im Januar schockte das Management um Konzernchef Dave Calhoun die Anleger mit der Nachricht, dass sich die Erstauslieferung des modernisierten Großraumjets 777X bis 2023 verzögert. Den Konzern kostete das 6,5 Milliarden Dollar. Die Masse der Probleme brockte Boeing 2020 einen Rekordverlust von 11,9 Milliarden Dollar ein.
Bei der 777X handelt es sich um die spritsparende Neuauflage des langjährigen Verkaufsschlagers Boeing 777. Doch auch der neuere Langstreckenjet 787 "Dreamliner" - brachte Boeing wieder Ärger. Nach Berichten über Produktionsmängel stellte die US-Luftfahrtbehörde FAA eine Reihe neuer Probleme fest. Schon seit Monaten kann Boeing deshalb viele 787 nicht mehr an Kunden ausliefern. Dem "Wall Street Journal" zufolge dürfte sich der Lieferstopp noch bis mindestens zum späten Oktober hinziehen.
Bereits früher hatte der "Traumflieger" eher für Alpträume gesorgt. Die Auslieferung des ersten Exemplars 2011 fand mehr als drei Jahre später statt als geplant. 2013 zogen die Aufsichtsbehörden den "Dreamliner" sogar für mehrere Monate aus dem Verkehr. Denn in gleich zwei Fällen hatten die neuartigen Akkus an Bord geschmort, die die Bordsysteme mit Strom versorgen.
Unterdessen nutzt Airbus die Gunst der Stunde. Konzernchef Guillaume Faury will die krisenbedingt gedrosselte Produktion der A320-Modellfamilie noch in diesem Jahr wieder auf 45 Stück pro Monat hochfahren. Das sind anderthalb Mal so viele Maschinen, wie Boeing bei seinem Konkurrenzmodell 737 für Anfang 2022 anpeilt. Für die kommenden Jahre lotet Airbus eine Rekordproduktion von monatlich bis zu 75 Exemplaren aus.
Außerdem will Faury dem US-Konzern seine letzte große Bastion streitig machen: Bis zum Jahr 2025 soll eine Frachtversion des Großraumjets Airbus A350 einsatzbereit sein - und dem Boeing 777-Frachter Kunden abspenstig machen.
Dass Boeing bei so vielen finanziellen Tiefschlägen nicht in die Knie gegangen ist, liegt auch am Rüstungs- und Raumfahrtgeschäft. Von Hubschraubern und Kampfjets für das US-Militär bis hin zu Satelliten und zum neuen "Starliner"-Raumschiff für die US-Raumfahrtbehörde Nasa sind die Vereinigten Staaten Großabnehmer des Konzerns.
Doch auch da läuft nicht alles rund. Das Tankflugzeug für die US-Luftwaffe wurde viel später fertig als geplant - mit milliardenschweren Mehrkosten für Boeing. Und das "Starliner"-Raumschiff macht seit 2019 mit Pannen Schlagzeilen. Im August musste es wegen eines Problems mit Ventilen am Antriebssystem zurück in die Werkstatt.
DAS MACHT DIE AKTIE:
Wie die Eigner anderer Luftfahrtunternehmen mussten auch Boeing-Aktionäre seit der Jahrtausendwende einige Turbulenzen überstehen. Erst brach nach den Anschlägen vom 11. September 2001 der Flugverkehr ein. US-Airlines rutschten in die Pleite, mit Folgen auch für die Flugzeughersteller. In der Finanzkrise 2008/2009 taumelte die Boeing-Aktie im Sog der Weltfinanzmärkte in die Tiefe - bis auf 29 Dollar im Jahr 2009.
Doch seitdem ging es lange stetig aufwärts. Zwischen Anfang 2016 und Anfang März 2019 verdreifachte sich der Kurs sogar von rund 143 Dollar auf ein Rekordhoch von 446 Dollar. Wenige Tage später stürzte die zweite 737 Max ab - und mit dem Flugverbot bekam Boeing auch an der Börse tiefe Kratzer. Bis Ende 2019 sackte der Aktienkurs bis auf 330 Dollar ab. Doch das hausgemachte Debakel sollte Anleger bei Weitem nicht so teuer zu stehen kommen wie die Corona-Krise.
Kurz nachdem die Pandemie und die staatlichen Reisebeschränkungen den weltweiten Flugverkehr und die Börsen einbrechen ließen, ging es für die Boeing-Aktie bis auf 89 Dollar in den Keller. Seitdem hat sich ihr Kurs zwar auf gut 220 Dollar wieder mehr als verdoppelt. Allerdings wird das Papier selbst jetzt nicht einmal halb so teuer gehandelt wie vor dem Desaster um die Boeing 737 Max.
Auch mit Blick auf die Zeit kurz vor der Pandemie hat sich die Aktie des US-Konzerns nicht so stark erholt wie die von Airbus. So liegt der Airbus-Kurs mit fast 117 Euro derzeit noch rund elf Prozent niedriger als Ende 2019. Bei Boeing beträgt der Abstand rund ein Drittel. Das Papier ist damit in diesem Zeitraum der schwächste Wert im Dow Jones Industrial Average
Abgekoppelt haben sich die Airbus-Aktien seit Ende Mai - bis dahin entwickelten sich die Papiere seit der Pandemie fast im Gleichklang. Aufgrund der deutlich besseren Entwicklung der Aktie in den vergangenen Monaten konnte Airbus auch den Rückstand beim Börsenwert verringern. Boeing kommt derzeit umgerechnet auf rund 110 Milliarden Euro und Airbus auf etwas mehr als 90 Milliarden Euro.
DAS SAGEN ANALYSTEN:
Die von Bloomberg erfassten Branchenexperten sind der Boeing-Aktie nach den Kursverlusten nun überwiegend zugetan. Von 26 Analysten empfehlen 14 die Aktie zum Kauf, elf raten zum Halten und nur einer zum Verkauf. Im Schnitt schreiben sie dem Papier ein Kursziel von rund 273 Dollar zu - fast ein Viertel über dem aktuellen Niveau.
Analyst Noah Poponak von der US-Großbank Goldman Sachs gehört mit einem Ziel von 304 Dollar zu den größten Optimisten. Nachdem Boeing Anleger und Öffentlichkeit seit März 2019 immer wieder mit schlechten Nachrichten geschockt hatte, zeigte sich Poponak wie andere Experten von dem vergleichsweise guten Abschneiden im zweiten Quartal positiv überrascht. Er rät daher zum Kauf.
Analyst Wolfgang Donie von der Landesbank NordLB traut Boeing für 2021 zwar inzwischen die Rückkehr in die Gewinnzone zu. Mit dieser Begründung hob er auch sein Kursziel auf 220 Dollar für die Aktie an. Er gehört aber zu den Pessimisten und rät Anlegern weiter, sich vom Papier zu trennen.
Derweil konnten die Probleme beim Langstreckenjet 787 "Dreamliner" den UBS-Analysten Myles Walton nicht von seiner positiven Haltung zu Boeing abbringen. Er kappte sein Kursziel vor wenigen Tagen zwar von 310 auf 290 Dollar, rät aber weiter zum Kauf der Aktie./stw/zb/jha/
Quelle: dpa-Afx