BRÜSSEL/BERLIN (dpa-AFX) - Energie-Experten haben vor schweren wirtschaftlichen Folgen eines Lieferstopps für russisches Gas in Reaktion auf den Krieg in der Ukraine gewarnt. Auch die deutsche Industrie ist alarmiert, die Chemie- und die Pharmabranche rechnen bei einem Gas-Embargo mit Produktionsausfällen.
"Ein volles Embargo würde eine sofortige Rezession in Europa auslösen, die Inflation würde weiter steigen und die Innenpolitik noch schwieriger werden", sagte der Ökonom Simone Tagliapietra von der Brüsseler Denkfabrik Bruegel der Deutschen Presse-Agentur. Er schlägt stattdessen vor, Zölle auf russische Energie einzuführen, um weiter Druck auf Russland auszuüben.
Raphael Hanoteaux von der Organisation E3G sagte mit Blick auf ein Gasembargo: "Die deutsche Industrie zum Beispiel würde ihre Wettbewerbsfähigkeit verlieren." Grund dafür seien Schließungen in der Industrie und noch höhere Preise.
"Ein Gas-Lieferstopp hätte katastrophale Folgen für die Industrie in Deutschland und die Menschen in unserem Land", sagte der Vizepräsident des Verbands der Chemischen Industrie, Werner Baumann, der "Bild am Sonntag": "Egal, ob es um Medikamente, Pflanzenschutz, Lebensmittelverpackungen, die Fertigung von Autos oder den Bau von Häusern geht: Die Produkte der chemischen Industrie finden sich in praktisch allen Warengruppen." Deutschland würde mit einem Gas-Stopp deshalb "eine Welle der Arbeitslosigkeit drohen, wie wir sie seit vielen Jahren nicht gesehen haben".
Die Vorstandschefin des Pharmaherstellers Merck, Belén Garijo, sagte der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" (Samstag), man benötige eine erhebliche Menge an Erdgas, vor allem zur Erzeugung von Strom und Prozessdampf. "Im Falle einer kurzfristigen Energie- und/oder Gasknappheit riskieren wir daher die Produktion und Versorgung mit lebenswichtigen Medikamenten und kritischen Produkten für die Entwicklung und Herstellung von Biologika und Covid-Impfstoffen."
Der Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie geht davon aus, dass Pharma als kritische Infrastruktur gesehen werde. "Wir erwarten, dass mögliche Restriktionen in unserer Branche zuletzt oder gar nicht kommen", forderte Verbandschef Hans-Georg Feldmeier.
Ab Anfang August gilt ein Embargo gegen russische Kohle, auf das sich die EU-Länder diese Woche geeinigt haben. Schätzungen von Tagliapietra zufolge gibt die EU derzeit täglich 15 Millionen Euro für Kohle aus Russland aus, aber noch viel mehr für russisches Gas - etwa 400 Millionen Euro pro Tag - sowie 450 Millionen Euro für Öl aus dem Land. Daher fordern etwa Polen und die baltischen Länder weitreichendere Maßnahmen.
Ein Öl-Lieferstopp hätte nach Ansicht der Experten Konsequenzen für den Weltmarkt. "Das hätte einen Effekt auf den weltweiten Preis, da ein großer Teil des Volumens einfach nicht mehr verfügbar wäre, die Nachfrage aber nicht sinkt", sagte Hanoteaux. Etwa die Hälfte des Öls, das von Russland nach Europa geliefert wird, kommt ihm zufolge durch Pipelines oder über Schiffe über die Nordsee, die schwierig umzuleiten wären. Ein höherer Ölpreis durch das niedrigere Angebot würde sich nicht nur auf Europa auswirken, sondern auch auf Entwicklungsländer, die schon jetzt Schwierigkeiten hätten, sagte Tagliapietra von Bruegel.
"Statt dieser Embargos wäre das Beste, sofort einen Zoll auf diese ganzen Importe von Öl und Gas zu legen", schlug Tagliapietra vor. Das würde seiner Ansicht nach die Einkünfte Russlands verringern und gleichzeitig die Effekte für die europäische Wirtschaft eindämmen. Da Russland sein Öl und Gas teils nur nach Europa verkaufen kann, wären Firmen wie Gazprom
Das Geld könne genutzt werden, um die hohen Energiepreise für Verbraucher abzufedern oder den Wiederaufbau der Ukraine zu finanzieren, so Tagliapietra. "Ein Vorteile der Zölle ist, dass wir Druck auf die Russen ausüben können: Wenn sie so weitermachen wie bisher, kann man die Zölle mit der Zeit erhöhen", sagte Tagliapietra. Seinen Angaben zufolge untersuchen die EU-Kommission und die EU-Länder, wie man solche Zölle gestalten könnte.
Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) sprach sich erneut dafür aus, eine Gasförderung mit Fracking in Deutschland "ergebnisoffen" zu prüfen. "Verbote könnte man aufheben. Wir haben als Volksvertreter sogar die verfassungsmäßige Pflicht, in solch außergewöhnlichen Krisenzeiten alle Optionen unvoreingenommen im Blick zu haben", sagte er der Funke-Mediengruppe (Sonntag). Beim Fracking wird unter hohem Druck eine Flüssigkeit in den Boden gepresst, um das Gestein durchlässiger zu machen und Gas oder auch Öl fördern zu können. Kritiker warnen allerdings vor umweltschädlichen Emissionen und einer Gefährdung des Grundwassers./dub/DP/he
Quelle: dpa-Afx