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KIEW/BERLIN (dpa-AFX) - Die Bundesregierung bereitet sich wegen des Kriegs in der Ukraine und anhaltender russischer Drohungen auf eine erhebliche Verschlechterung der Gasversorgung in Deutschland vor. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) setzte am Mittwoch die Frühwarnstufe als erste von drei Krisenstufen des sogenannten Notfallplans Gas in Kraft und appellierte an alle Verbraucher, Gas zu sparen. Die Versorgungssicherheit sei aber weiterhin gewährleistet. In der Ukraine gingen die Kämpfe auch nach Fortschritten bei Verhandlungen weiter.
Die russische Ankündigung vom Dienstag, Kampfhandlungen teilweise zu drosseln, wurde in der Ukraine und im Westen mit viel Skepsis aufgenommen. Der ukrainische Generalstab rechnet nicht mit einem großangelegten Abzug russischer Truppen aus Gebieten nahe der Hauptstadt Kiew. Der Gegner habe wegen seiner Verluste wohl nur "vorübergehend das Ziel aufgegeben, Kiew zu blockieren", teilte der Generalstab am Mittwochmittag mit. Stattdessen gruppierten sich die russischen Truppen um und konzentrierten sich auf Angriffe im Osten und Süden der Ukraine.
Die Signale Russlands zur Deeskalation "übertönen nicht die Explosionen russischer Geschosse", hatte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj zuvor betont. Auch ein Pentagon-Sprecher sprach von einer "Repositionierung" der Truppen. Die Hauptstadt könne weiter mit Raketen beschossen werden: "Die Bedrohung für Kiew ist nicht vorbei."
Das russische Militär zerstörte nach eigenen Angaben mit Raketen zwei Munitionslager im ostukrainischen Gebiet Donezk. Insgesamt seien binnen 24 Stunden 64 militärische Objekte der Ukraine zerstört worden, sagte ein Sprecher des Verteidigungsministeriums. Angaben über das Kampfgeschehen waren zunächst nicht unabhängig überprüfbar. Russland hatte die Ukraine vor knapp fünf Wochen am 24. Februar angegriffen.
Gasstopp, wenn der Rubel nicht mehr rollt?
Russlands Präsident Wladimir Putin will sich Donnerstag mit Vertretern des russischen Gasriesen Gazprom und der Zentralbank treffen, um über das weitere Vorgehen bei Gaslieferungen nach Westeuropa zu beraten. Die russische Führung bleibt bei ihrer Forderung, dass Lieferungen nicht wie vertraglich vereinbart weiter in Dollar oder Euro bezahlt werden, sondern in Rubel. Die Lieferung von Gas und die Bezahlung seien aber getrennte Prozesse, meinte Kremlsprecher Dmitri Peskow am Mittwoch. Die Anweisung Putins, auf Rubel-Zahlungen umzustellen, sei noch nicht für diesen Donnerstag gültig.
Habeck bekräftigte am Mittwoch, falls Russland eine Bezahlung nur noch in Rubel akzeptiere, stelle dies einen Bruch der privaten Lieferverträge dar. Um auf mögliche Lieferausfälle vorbereitet zu sein, habe das Ministerium deshalb die Frühwarnstufe ausgerufen. Nach dem Notfallplan gibt es drei Krisenstufen: Frühwarnstufe, Alarmstufe und Notfallstufe. Erst in der Notfallstufe greift der Staat in den Gasmarkt ein. Haushaltskunden wären dann besonders geschützt.
"Es gibt aktuell keine Versorgungsengpässe", sagte Habeck. "Dennoch müssen wir die Vorsorgemaßnahmen erhöhen, um für den Fall einer Eskalation seitens Russlands gewappnet zu sein."
Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) warnte im Fall eines russischen Gas-Lieferstopps vor "extremen wirtschaftlichen Folgen". Die EU-Kommission betonte, man sei für mögliche Lieferunterbrechungen gerüstet.
Der Rubel legt wieder zu
Der zuletzt durch die Sanktionen des Westens stark unter Druck geratene Rubel erreichte inzwischen fast wieder einen Wert gegenüber dem Euro und dem Dollar wie vor dem Krieg. Grund dafür war vor allem die Ankündigung, sich das Gas künftig in Rubel bezahlen zu lassen. Auch Öl und andere Güter könnte Russland schon bald in Rubel abrechnen. Für einen Euro gab es am Mittwoch zeitweise rund 94 Rubel, am 9. März etwa hatten deutsche Banken noch einen Kurs von über 140 Rubel je Euro angesetzt. Viele Russen freuen sich zudem über vergleichsweise niedrige Benzinpreise.
Merz im Angriffsmodus, Schwesig reumütig
Der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz hielt früheren deutschen Regierungen eklatante Irrtümer bei der Einschätzung von Kreml-Chef Putin vor. Als Beispiele nannte er den schlechten Zustand der Bundeswehr und die immer größere Abhängigkeit von russischem Gas. Der größte Fehler sei gewesen, das Gesuch der Ukraine auf Aufnahme in die Nato abzulehnen, schrieb Merz in einem Gastbeitrag für "Die Zeit". Putin habe Deutschland "über Jahre in die Irre und an der Nase herumgeführt, begleitet von einem Netzwerk deutscher Unternehmer und Politiker, die ihren Verstand dem Geldverdienen untergeordnet haben, bis hin zu einem ehemaligen Bundeskanzler, der in diesen Tagen den letzten Rest seines Anstandes verliert".
Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) bezeichnete ihre jahrelange Unterstützung der russischen Erdgaspipeline Nord Stream 2 nachträglich als falsch. Auch die Gründung der Klimaschutzstiftung Mecklenburg-Vorpommern, in die 20 Millionen Euro von Nord Stream 2 geflossen sind, sei aus heutiger Sicht ein Fehler gewesen, sagte Schwesig am Mittwoch in Schwerin bei ihrem ersten öffentlichen Auftritt nach sechswöchiger Krankheit.
Vier Millionen Flüchtlinge, die Hälfte davon Kinder
Vor dem Krieg lebten mehr als 44 Millionen Menschen in der Ukraine, mehr als vier Millionen haben sich seitdem im Ausland in Sicherheit gebracht. Mehr als 2,3 Millionen sind allein im Nachbarland Polen angekommen. Außerdem haben innerhalb der Ukraine 6,5 Millionen Menschen ihr Zuhause verlassen müssen. Rund zwei Millionen Kinder sind nach Angaben von Unicef bisher aus der Ukraine geflüchtet - zusätzlich 2,5 Millionen sind innerhalb des Landes auf der Flucht. Damit sei mehr als jedes zweite Kind nicht mehr in seinem bisherigen Zuhause. Eine Geberkonferenz in Warschau soll in der kommenden Woche Geld für Hilfebedürftige sammeln.
In Deutschland sind nach Angaben der Bundespolizei bisher mehr als 283 000 Kriegsflüchtlinge angekommen. Allerdings könnte die Zahl viel höher liegen, da Ukrainer visumsfrei einreisen dürfen. Der Anstieg hatte sich in den vergangenen Tagen etwas abgeschwächt. Die Schulen und Berufsschulen in Deutschland haben inzwischen mehr als 20 000 Schülerinnen und Schüler aus der Ukraine aufgenommen. Das ergab eine erste, noch unvollständige Abfrage der Kultusministerkonferenz (KMK) bei den Ländern.
Lawrow in China und Indien
Bei einem Treffen in China vereinbarten der russische Außenminister Sergej Lawrow und sein Kollege Wang Yi den Ausbau einer strategischen Partnerschaft in einer "schwierigen internationalen Situation". China unterstütze die Friedensgespräche für die Ukraine, um so schnell wie möglich eine "Abkühlung vor Ort" zu erreichen und eine große humanitäre Krise zu verhindern, sagte Wang Yi nach Angaben seines Ministeriums. Von China wollte Lawrow nach Indien weiterreisen, wo er am Donnerstag erwartet wird. Dabei handelt es sich um die zwei bevölkerungsreichsten Länder der Welt, die im Ukraine-Krieg bislang weder westliche Sanktionen mitgetragen noch Russland verurteilt haben./mi/DP/jha
Quelle: dpa-Afx