HANNOVER (dpa-AFX) - Von unmittelbarer Gefahr ist beim Gang durch die Messehallen wenig zu spüren - zumal diese Nutzfahrzeug-IAA verglichen mit der Zeit vor Corona abgespeckter daherkommt. Für die nächsten Monate aber lassen die Topmanager der Brummi-Branche durchblicken, dass sie so einiges an Problemen wälzen müssen.

Das PS-Schaulaufen früherer Tage weicht auch in Hannover dem Wandel zu weniger klimaschädlichen Antrieben, jedenfalls in den Reden und auf den Showflächen. Das Großprojekt E-Mobilität indes verschlingt Milliarden, denn noch werden vorwiegend Diesel gefertigt. Wie ist der Umstieg zu finanzieren in Zeiten immer teurerer Energie, erneut brüchiger Lieferketten - und einer sich abkühlenden Weltwirtschaft?

"Es ist ein seltsames Gefühl", sagt Christian Levin. Der Chef der VW -Nutzfahrzeug-Holding Traton ist wie etliche der 1400 Aussteller aus 42 Ländern eigentlich gekommen, um Elektrifizierungsstrategien zu erklären. Angesprochen auf die augenblickliche Stimmung, macht der Schwede klar, wie hin- und hergerissen er ist. Für Energie und Rohstoffe sei deutlich mehr zu zahlen. Das Auftragsbuch reiche für über ein Jahr - "aber das lässt uns sicherlich nicht gut schlafen".

Die Lkw- und Bushersteller sind in einer Art doppeltem Dilemma. Einerseits müssen sie beim eingeleiteten Abschied vom Verbrenner gegenüber vielen Pkw-Kollegen noch nachholen, wenngleich unter ganz anderen Bedingungen. Sie tun das inzwischen auch mit einiger Verve.

Auf der anderen Seite muss das Geld für die nötige Technologie erst verdient werden. Und da wachsen - trotz insgesamt guter Bestellungen - die Risiken. Kunden aus der Industrie könnten ihre Orders nachträglich stornieren, falls der finanzielle Druck zunimmt. Die Frachtraten in der Logistik nehmen mancherorts schon jetzt ab.

Nicht zu vergessen die Schwierigkeiten im Teileeinkauf oder der Mangel an Lkw-Fahrern. "Wir haben nicht nur eine Nachfrage-, sondern auch eine große Angebotskrise", unterstreicht Levin. So nimmt etwa die Beratungsfirma Boston Consulting Group (BCG) an, dass das Vor-Pandemie-Niveau beim globalen Lkw-Absatz erst 2025 in Sicht ist.

Um wettbewerbsfähig zu bleiben, müssten die Anbieter rascher dazu übergehen, emissionsfreie Modelle auf den Markt zu bringen, so BCG. Gleichzeitig hielten sich Kunden gegenüber reinen E-Lastern noch zurück: Bei einer Branchenumfrage hätten nur 16 Prozent angekündigt, sich binnen zehn Jahren einen solchen zuzulegen. Umweltschützer verlangen ein Verbrenner-Aus: "Der Diesel gehört ins Geschichtsbuch. Das gilt auch für Lkw", sagt Nabu-Chef Leif Miller.

"Grundsätzlich bleibt die Transportnachfrage in allen Märkten auf einem sehr, sehr hohen Niveau", sagt der Traton-Chef. Dennoch müssen sich manche Unternehmen wohl auf einiges gefasst machen. "Der Nutzfahrzeugmarkt entwickelt sich parallel zur Gesamtwirtschaft", betont Branchen-Experte Ferdinand Dudenhöffer. "In Rezessionszeiten wie jetzt in Europa ist die Nachfrage schwach, einfach weil weniger Gütertransporte gebraucht werden."

Bisher stimme der Bestelleingang zuversichtlich, ist auf der IAA an mehreren Stellen zu hören. Wie es ab Mitte 2023 weitergehe, sei aber unsicher. Und in der Zeit danach seien zentrale Fragen nicht geklärt.

Brennpunkt Nummer eins: eine Ladeinfrastruktur auch für E-Lkw. Diese sei perspektivisch ein größeres Problem als die hohen Energiepreise, findet Levin. Schon für Pkw verläuft der Ladesäulen-Aufbau schleppend - wie soll es da erst bei den Brummis werden, die mehr Ladeleistung und andere Technik benötigen? "Wir müssen das Netz zusammenbekommen", fordert der Traton-Chef. Viele Politiker in Europa hätten dies verstanden. Insgesamt sehe er hier jedoch "ein Fragezeichen".

Brennpunkt Nummer zwei: die Debatte um die Brennstoffzelle. MAN-Chef Alexander Vlaskamp glaubt, dass mit Wasserstoff betriebene Lkw noch eine gewisse Zeit brauchen. "Grüner Wasserstoff ist knapp." Zudem gingen derzeit etwa zwei Drittel der gesamten Energiemenge über die einzelnen Umwandlungsstufen im Brennstoffzellen-Fahrzeug verloren.

Doch die Technologie macht Entwicklungssprünge, zumindest bei der Gesamtreichweite. Newcomer Quantron will mit seinem FCEV Heavy Truck 1500 Kilometer schaffen. Der Zulieferer Forvia stellt auf der IAA unter anderem ein Wasserstoffspeichersystem vor. MAN-Manager Vlaskamp schätzt dennoch: Frühestens Anfang/Mitte der 2030er Jahre könnten Brennstoffzellen-Lkw in großen Stückzahlen rentabel verwendet werden.

McKinsey kalkuliert ähnlich. Bei den Neuzulassungen von Lastwagen in Europa, China und den USA sehen die Berater erst 2035 überhaupt die Schwelle von insgesamt 50 Prozent E-Antrieben erreicht. MAN zeigt in Hannover den Prototypen eines "reinelektrischen Großserien-Lkw", der ab 2024 kommt. Er soll bis zu 800 Kilometer Reichweite haben.

Auch Daimler Truck hat viel vor. Der Batterie-Lkw für den Fernverkehr, der eActros LongHaul, soll ebenso übernächstes Jahr serienreif sein und mindestens 500 Kilometer weit kommen. Europa- und Lateinamerika-Chefin Karin Radström spürt - bislang - keinen Abschwung im Tagesgeschäft. "Allerdings kann das auch ziemlich schnell gehen", räumt sie ein. Vorstandschef Martin Daum meint zum Ladenetz: "Für einen zügigen Aufbau ist es essenziell, dass die gesamte Branche und die Politik an einem Strang ziehen."

Bei Brennstoffzellen arbeiten die Schwaben mit Volvo zusammen. Die Schweden ihrerseits geben bei rein batterieelektrischen Exemplaren nach eigenen Angaben aktuell das Tempo vor. In der vorigen Woche verkündeten sie, noch dieses Jahr mit der Produktion des ersten E-Schwerlasters zu beginnen. Wo immer die konjunkturelle und technologische Reise hingeht: Bosch-Geschäftsführer Markus Heyn fordert auch für Nutzfahrzeuge Technologieoffenheit. "Je nach Anwendung wird es mehr als einen klimaneutralen Lkw-Antrieb geben."/jap/men/zb

Quelle: dpa-Afx