(neu: weitere Stimmen zur Impfpflicht, zusätzliche Biontech-Lieferung)
BERLIN (dpa-AFX) - Die zunehmende Wucht der vierten Corona-Welle trifft die Krankenhäuser in Deutschland immer härter. Die Intensivstationen sind laut Mediziner-Vereinigung Divi etwa in Bayern, Thüringen, Sachsen und einigen Ballungszentren bereits vielfach überlastet. Angesichts immer neuer Rekorde bei den Infektionszahlen wird der Ruf nach einer allgemeinen Impfpflicht lauter. Der geschäftsführende Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) betonte die Gleichwertigkeit des Moderna-Impfstoffs
Kanzlerin Angela Merkel (CDU) malte ein dramatisches Bild der Corona-Lage. "Wir haben eine hoch dramatische Situation. Was jetzt gilt, ist nicht ausreichend", wurde die geschäftsführende Kanzlerin aus CDU-Vorstandsberatungen zitiert. "Wir haben eine Lage, die alles übertreffen wird, was wir bisher hatten." Man müsse den exponentiellen Anstieg schnell stoppen, sonst komme man an die Grenze der Handlungsfähigkeit. Die bundesweite Sieben-Tage-Inzidenz stieg auf den Höchststand von 386,5 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner und Woche. Die Gesundheitsämter meldeten 30 643 Neuinfektionen.
Lage der Krankenhäuser:
"Die Corona-Lage ist sehr besorgniserregend und momentan nicht unter Kontrolle", sagte der Präsident der Intensivmediziner-Vereinigung Divi, Gernot Marx. Mehr als 3670 Covid-19-Patienten würden nun auf Intensivstationen versorgt - 1200 mehr als vor einer Woche. Die Überlastung in den betroffenen Regionen mache Verlegungen in den jeweiligen Bundesländern und die Verschiebung planbarer Operationen notwendig. Bei anhaltendem Corona-Wachstum werde eine Priorisierung von Eingriffen in weiten Teilen Deutschlands notwendig. Jeder Notfall und jeder Covid-19-Patient werde jedoch versorgt, betonte Marx. Sachsen muss sich nach Einschätzung der Landesärztekammer auf eine Triage vorbereiten - eine Auswahl, wer behandelt wird und wer nicht. Es gebe nur noch wenige Betten auf den Intensivstationen, sagte Kammerpräsident Erik Bodendieck dem Sender NDR Info.
Die neuen Corona-Regeln:
Das Infektionsschutzgesetz mit neuen Corona-Regeln tritt diese Woche in Kraft - und schon richtet sich der Blick auf mögliche Nachbesserungen. Eingeführt wird etwa 3G am Arbeitsplatz und im Verkehrsbereich, also Zutritt nur für Geimpfte, Genesene und Getestete. Am 9. Dezember wollen Bund und Länder erneut über die aktuelle Lage beraten und die Gesetzeslage evaluieren. CSU-Chef Markus Söder sagte in München, die werdende Ampel-Koalition werde nachbessern müssen. Divi-Präsident Marx appellierte an die Politik, sich für den Fall einer weiter ungebremsten Corona-Ausbreitung zu wappnen. In dem Fall sollten zusätzliche Maßnahmen vorbereitet werden. Bereits der Präsident des Robert Koch-Instituts, Lothar Wieler, hatte gemahnt, dass etwa die Schließung von Clubs und Einschränkungen bei Großveranstaltungen nötig sein könnten.
Rufe nach Impfpflicht werden lauter:
Immer mehr führende Unionspolitiker zeigen sich offen für eine allgemeine Impfpflicht gegen Corona - aber auch Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann. In einem Gastbeitrag für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" schrieb der Grünen-Politiker gemeinsam mit Bayerns Regierungschef Markus Söder (CSU): "Eine Impfpflicht ist kein Verstoß gegen die Freiheitsrechte. Vielmehr ist sie die Voraussetzung dafür, dass wir unsere Freiheit zurückgewinnen." Söder hatte die Forderung schon vor ein paar Tagen erhoben. Bayerns Gesundheitsminister Klaus Holetschek (CSU) sagte im Deutschlandfunk, nach anfänglicher Ablehnung glaube er inzwischen, "dass wir relativ schnell über dieses Thema sprechen müssen".
Auch Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther (CDU) hatte am Wochenende erklärt, er sei notfalls bereit, diesen Schritt zu gehen. Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) glaubt, eine allgemeine Impfpflicht sei womöglich unumgänglich, um aus der "Dauerschleife" immer neuer Corona-Wellen herauszukommen, wie ein Regierungssprecher der Deutschen Presse-Agentur sagte. Sachsen-Anhalts Regierungschef Reiner Haseloff (CDU) sagte der dpa: "Wenn die zukünftige Bundesregierung eine entsprechende Novelle vorlegt, dann werde ich das unterstützen." Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) mahnte eine gründliche Prüfung an. Etwa Saarlands Ministerpräsident Tobias Hans und Minister Spahn (beide CDU) stellten sich dagegen.
Moderna und Biontech:
Spahn versicherte, den Menschen in Deutschland stehe genug Impfstoff zur Verfügung - für alle Auffrisch-, Erst- und Zweitimpfungen in diesem Jahr. "Wir sitzen hier in Deutschland im Schlaraffenland", meinte der Präsident des für Impfstoffe zuständigen Paul-Ehrlich-Instituts, Klaus Cichutek. So seien die Impfstoffe von Moderna und Biontech/Pfizer hinsichtlich ihrer hohen Wirksamkeit und extrem seltener Wahrscheinlichkeit von Nebenwirkungen gleichwertig. Der Charité-Infektionsimmunologe Leif Erik Sander sagte: "Sie können das nehmen, was gerade da ist."
Das Gesundheitsministerium hatte Begrenzungen bei Biontech-Bestellmengen angekündigt und verärgerte Reaktionen hervorgerufen. Nun rechnete Spahn vor: Bis Jahresende gebe es 24,3 Millionen Dosen Biontech/Pfizer und bis zu 26 Millionen Dosen Moderna. "Das ist genug für alle anstehenden Impfungen." Die meisten Auffrischimpfungen könnten mit Biontech gemacht werden. Spahn bedauerte, dass sich Praxen und Impfstellen umstellen müssten.
Vor der Gesundheitsministerkonferenz (GMK) teilte Spahn dann mit, dass das Mainzer Unternehmen Biontech in der kommenden Woche eine Million zusätzliche Corona-Impfdosen ausliefern will, wie die Deutsche Presse-Agentur aus GMK-Kreisen erfuhr. Damit sollen nächste Woche statt zwei Millionen drei Millionen Dosen zur Verfügung stehen. Die Bundesländer verlangen, dass die Kontingentierung des Biontech-Präparats aufgehoben wird, wie die GMK einhellig beschloss.
Impfung für Fünf- bis Elfjährige:
Die möglichen Impfungen für Kinder rücken näher. Laut Spahn sollen im Dezember 2,4 Millionen Dosen des Biontech/Pfizer-Impfstoffs für Kinder ab fünf Jahren zur Verfügung stehen. Die Zulassung durch die europäische Arzneimittelbehörde EMA werde wahrscheinlich Ende dieser Woche erfolgen. Die gesamte Europäische Union erhalte die erste Lieferung am 20. Dezember./bw/sk/had/sik/ggr/DP/stw
Quelle: dpa-Afx