(neu: Aussagen Wirtschaftsministerium)
BERLIN/MÜNCHEN/MOSKAU (dpa-AFX) - Der mutmaßliche Betrugsskandal beim Dax-Konzern Wirecard
Zentrale Fragen sind, wann genau die Bundesregierung von den Vorgängen bei Wirecard wusste und ob sie zu wenig dagegen unternommen hat. Der Dax-Konzern aus dem Münchner Vorort Aschheim hatte im Juni zuerst Luftbuchungen in Höhe von mutmaßlich 1,9 Milliarden Euro eingeräumt und wenig später Insolvenz angemeldet.
Eine Sprecherin Altmaiers sagte: "Alle beteiligten Stellen sind aufgefordert, die unsäglichen Vorfälle bei Wirecard aufzuklären, das gilt selbstverständlich auch für alle betroffenen Bundesressorts." Dies sei Altmaier sehr wichtig, da es auch um den Ruf des Finanzstandorts Deutschland gehe.
Der spurlos verschwundene frühere Vertriebschef des Konzerns ist einem Medienbericht zufolge möglicherweise in Russland untergetaucht - doch der Kreml weiß nach eigenen Angaben von nichts. "Nein, es ist nichts bekannt", sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow am Montag zu einem Bericht des "Handelsblatts". Demnach könnte sich der österreichische Manager Jan Marsalek nach Russland abgesetzt haben und auf einem Anwesen westlich von Moskau unter Aufsicht des russischen Militärgeheimdienstes GRU untergebracht sein.
Marsalek ist die Schlüsselfigur der Affäre. Bis der Manager im Juni fristlos gefeuert wurde, war er bei Wirecard weltweit für das Tagesgeschäft zuständig. Er wurde zunächst auf den Philippinen vermutet, der philippinischen Regierung zufolge ist er dort verheiratet - wovon den Kollegen in der Konzernzentrale nichts bekannt war. Später hatte die Regierung in Manila eingeräumt, dass die Daten zu Ein- und Ausreise im Computersystem der nationalen Einwanderungsbehörde gefälscht waren. Marsalek soll nach verschiedenen - sämtlich unbestätigten - Medienberichten Kontakte zu russischen Geheimdiensten haben.
Von deutscher oder österreichischer Seite gab es am Montag keinerlei offizielle Angaben zu Marsaleks Aufenthaltsort. Ein Sprecher des Auswärtigen Amts erklärte lediglich, man habe die Medienberichte zur Kenntnis genommen und äußere sich nicht zu Spekulationen oder laufenden Ermittlungen.
Die Obleute des Finanzausschusses beschlossen am Montag eine Sondersitzung für den 29. Juli. "Die parlamentarische Aufklärung des Wirecard-Skandals auf die lange Bank zu schieben ist keine Option", sagte Grünen-Obfrau Lisa Paus. Der Bundestagspräsident müsse die Sondersitzung noch genehmigen. Neben Scholz und Altmaier sollen auch Vertreter der Deutschen Prüfstelle für Rechnungslegung sowie der Finanzaufsicht Bafin geladen werden.
Aus Regierungskreisen hieß es, Scholz habe schon vergangene Woche angeboten, an einer Sondersitzung in der Sommerpause teilzunehmen. Er werde also voraussichtlich dabei sein.
Es geht unter anderem darum, ob es Fehler bei der Finanzaufsicht gab, ob Scholz Verantwortung trägt und ob die Bundesregierung - das Kanzleramt eingeschlossen - womöglich Wirecard unterstützten, obwohl der Verdacht von Unregelmäßigkeiten bereits im Raum stand.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) thematisierte nach Angaben einer Regierungssprecherin bei einer China-Reise im Herbst 2019 das Thema Wirecard. "Sie hat es angesprochen", sagte die Sprecherin. Merkel habe aber zu diesem Zeitpunkt keine Kenntnis von Unregelmäßigkeiten bei Wirecard gehabt. Es ging damals um einen beabsichtigten Markteintritt von Wirecard in China.
Die Regierungssprecherin nannte den Fall "besorgniserregend", er bedürfe einer umfassenden Aufklärung. Sie sagte außerdem, die Bundesregierung setze sich im Rahmen bilateraler Kontakte regelmäßig für wirtschaftliche Interessen ein, die Kanzlerin werde daher häufig von hochrangigen Wirtschaftsdelegationen begleitet.
"Millionen geschädigter Anleger haben ein Anrecht darauf, dass Regierung und Parlament jetzt jeden Stein umdrehen, jeden Prozess hinterfragen, jeden Verantwortlichen des Wirecard-Skandals zur Rechenschaft ziehen", sagte der finanzpolitische Sprecher der FDP-Fraktion, Florian Toncar. Der Versuch, nur scheibchenweise Informationen preiszugeben und sich ansonsten selbst zu bescheinigen, es seien keine Fehler gemacht worden, sei krachend gescheitert. "Sollte es nächste Woche keine Klarheit geben, führt kein Weg mehr an einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss vorbei."
Die mutmaßlichen Scheingeschäfte bei Wirecard liefen großenteils über angebliche Subunternehmer im Mittleren Osten und in Südostasien. Kerngeschäft von Wirecard ist das Abwickeln von Kartenzahlungen als Schaltstelle zwischen Kreditkartenfirmen und und Händlern.
"Die skandalösen Vorgänge rund um Wirecard gehören restlos und gründlich aufgeklärt", sagte SPD-Fraktionsvize Sören Bartol. "Es ist erschreckend, dass namhafte Wirtschaftsprüfungsunternehmen seit über einem Jahrzehnt die Bilanzen von Wirecard durchleuchtet haben und jedes Mal nichts zu beanstanden hatten."
Die Aufsicht über die Wirtschaftsprüfer liege beim Bundeswirtschaftsministerium. Während Scholz für Aufklärung und Verbesserungen bei der Finanzaufsicht sorge, ducke sich Wirtschaftsminister Altmaier weg, so Bartol. Altmaier solle sich an der Aufklärung beteiligen und Maßnahmen ergreifen, um die Aufsicht über die Wirtschaftsprüfer funktionsfähig zu machen.
Eine Sprecherin Altmaiers sagte: "Dort, wo es gegebenenfalls Lücken, Nachbesserungsbedarf oder Effizienzsteigerungspotenziale in der Aufsicht über solche Finanzdienstleistungen gibt, sollten diese zügig in Angriff genommen werden." Die Abschlussprüferaufsichtsstelle sei eine unabhängige berufsrechtliche Aufsicht über Wirtschaftsprüfer./ted/DP/nas
Quelle: dpa-Afx