(Neu: Reaktion Ngozi und Biontech und Curevac)
GENF/WASHINGTON (dpa-AFX) - Es ist ein Dammbruch: In der Corona-Pandemie schlägt sich die US-Regierung jetzt auf die Seite ärmerer Länder und vieler Hilfsorganisationen. Sie will, dass Pharmafirmen vorübergehend den Patentschutz auf ihre Corona-Impfstoffe verlieren. Dann könnten Hersteller in aller Welt die Impfstoffe produzieren, ohne Lizenzgebühren an Biontech
Denn erstens müssten die 164 Mitgliedsländer der Welthandelsorganisation (WTO) zustimmen, dass internationale Copyright-Bestimmungen außer Kraft gesetzt werden. Und zweitens dürfte es ohne Unterstützung der Pharmafirmen kaum gelingen, die komplexen Rezepte der neuartigen Impfstoffe einfach nachzumachen. Die Pharmafirmen und -verbände laufen Sturm. Das "Wall Street Journal" spricht vom "Diebstahl der Impfstoff-Patente".
Die USA stünden zwar hinter dem Schutz geistigen Eigentums, die Pandemie sei aber eine globale Krise, die außerordentliche Schritte erfordere, sagte die US-Handelsbeauftragte Katherine Tai am Mittwoch. Das Ziel sei, "so viele sichere und wirksame Impfungen so schnell wie möglich zu so vielen Menschen wie möglich zu bringen". Der Chef der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Tedros Adhanom Ghebreyesus, sprach auf Twitter von einer "historischen Entscheidung". Damit könne der Ungleichheit bei der Verteilung der Impfstoffe begegnet werden.
Russland ist der Idee nicht abgeneigt. Sie verdiene Beachtung, sagte Kremlchef Wladimir Putin der Agentur Interfax zufolge. "Leider hat sich der Kampf zwischen den verschiedenen Pharmaherstellern weltweit verschärft", meinte Putin. Es dürfe nicht um Gewinnmaximierung gehen. Russland hat bereits vier eigene Corona-Impfstoffe.
WTO-Chefin Ngozi Okonjo-Iweala begrüßte den Vorstoß von Tai. "Ich begrüße ihre Bereitschaft sehr, sich mit den Verfechtern eines Patentverzichts zusammenzusetzen", teilte Ngozi mit. Sie lobte Indien und Südafrika, die ihren Textvorschlag für die Patentaussetzung gerade überarbeiteten, damit hoffentlich eine schnelle Lösung gefunden werde. "Wir können nur gemeinsam einen pragmatischen Weg nach vor finden", sagte Ngozi nach Angaben des WTO-Sprechers.
Für die Pharmafirmen ist das ein Schlag. Deutsche Pharma-Firmen lehnen den Vorschlag ab. Niemand könne in weniger als sechs Monaten eine Produktion hochziehen, teilte der Verband Forschender Arzneimittelhersteller mit. "Und im nächsten Jahr werden die jetzigen Hersteller schon nach heutigem Planungsstand mehr Impfstoff-Dosen produzieren, als die Weltbevölkerung benötigt", sagte Verbandspräsident Han Steutel.
Die deutschen Impfstoff-Hersteller Curevac
Ein Sprecher des Tübinger Biotech-Unternehmen Curevac sagte, dass Patente nicht das entscheidende Kriterium in der Bereitstellung größtmöglicher Impfstoffmengen seien. Vielmehr sehe man den generellen Druck auf die Lieferketten als die größte Herausforderung. Dieser ergebe sich aus dem hohen Bedarf an Ausgangsmaterialien und Geräten zur selben Zeit und in hohen Mengen.
Die Pharmaindustrie argumentiert, dass sie auf eigenes Risiko Millionen in die Forschung investiert. Die allermeisten Projekte versanden irgendwann. Wenn aber einmal ein erfolgreiches Mittel dabei herauskomme, müsse das Unternehmen auch Rendite machen können, um die Investitionen wieder hereinzuholen und Aktionäre zu belohnen.
Der Verband der US-Pharmaunternehmen (PhRMA) warnte, dass es ohne Patente zur Verbreitung gepanschter Impfungen führen könne. Und der Verband der US-Biotech-Industrie (Bio) sah die Gefahr, dass andere Länder die US mit ihrer heute führende Rolle in der Biotechnologie abhängen könnten.
Der Weltärztebund forderte die Hersteller auf, Patente eigenständig freizugeben. "Die Pharmaindustrie könnte jetzt die ganze Menschheit voranbringen, wenn sie freiwillig auf die Ausübung ihrer Patentrechte für die Impfstoffe verzichtet", sagte der Vorsitzende Frank Ulrich Montgomery den Zeitungen der Funke Mediengruppe (Online Donnerstag). "Freiwilligkeit wäre auch der Schlüssel zur Vermeidung drastischerer Maßnahmen durch Regierungen und Welthandelsorganisation."
Eine Sprecherin von Pfizer sagte der "New York Times", der Impfstoff habe 280 Komponenten von 86 Zulieferern aus 19 Ländern. Um das zu verarbeiten, seien komplexe Spezialanlagen und ausgebildetes Personal notwendig. In die Kerbe haut auch der Generaldirektor des Pharmaverbandes IMFPA, Thomas Cueni. Alles viel zu kompliziert: "Selbst, wenn die Patente ausgesetzt würden, würde in dieser Pandemie keine einzige zusätzliche Dosis die Menschen erreichen."
Es gibt aber eine ganze Reihe von Herstellern, die sich das zutrauen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat bereits eine Plattform für den Technologietransfer speziell für die neuartigen mRNA-Impfstoffe von Biontech/Pfizer und Moderna aufgeschaltet. Dort haben sich schon 50 Interessenten gemeldet, wie der verantwortliche Leiter bestätigt. Die meisten seien aber von Firmen, die um Technologietransfer bitten, oder Einrichtungen, die sich als Trainingszentren bewerben - nur wenige hätten Interesse ausgedrückt, Wissen zu teilen.
Problematisch sind nach Darstellung der Pharmafirmen vielmehr Engpässe bei den Rohstoffen und dem Material. Die Denkfabrik Chatham House zeigte dies im März auf: Es fehlten Glasfläschchen, Bioreaktorbeutel für Zellkulturen, fötales Kälberserum als Medium für Zellkulturen und Nanopartikel, in die manche Impfstoffe eingelagert werden müssen. Warum? Weil die Industrie bis Ende 2021 rund 14 Milliarden Impfdosen in Aussicht gestellt hat, drei bis vier Mal so viel Impfstoff, wie bislang pro Jahr hergestellt wurde.
Die Pharmafirmen, die die Technologie haben, wehren sich seit Monaten in der WTO gegen den Vorschlag Indiens und Südafrikas, den Patentschutz für Corona-Mittel vorübergehend auszusetzen. In der WTO ist das entscheidende TRIPS-Abkommen über den Schutz geistigen Eigentums hinterlegt, dort müssten alle 164 Mitgliedsländer zustimmen, bestimmte Passagen auszusetzen.
Dass Pharmafirmen für ihre Forschungsanstrengungen belohnt werden müssen, zieht nicht bei Kate Elder, Impfstoff-Expertin bei der Hilfsorganisation "Ärzte ohne Grenzen". Biontech/Pfizer, Moderna und andere hätten Milliarden aus Steuergeldern bekommen, um die Forschung an Corona-Impfstoffen voranzutreiben. "Die Früchte von daraus resultierender Forschung müssen mit kompetenten Herstellern geteilt werden", fordert sie. "Öffentliche Gelder dürfen nicht umsonst sein."
Die EU, die in der WTO für alle Länder verhandelt, zeigte sich nach dem US-Vorstoß auch kulanter als vorher: "Die Europäische Union ist bereit, jeden Vorschlag zu diskutieren, der diese Krise wirksam und pragmatisch angeht", sagte Kommissionschefin Ursula von der Leyen, mit einem Seitenhieb auf die USA, die die US-Impfstoffproduktion zuerst gänzlich für die eigene Bevölkerung behielten. Länder mit eigener Produktion müssten exportieren. "Europa ist die einzige demokratische Region der Welt, die Exporte im großen Maßstab erlaubt", so von der Leyen. Es seien schon mehr als 200 Millionen Impfdosen in den Rest der Welt geliefert worden, fast so viel, wie in der EU verabreicht worden seien. Die EU sei die Apotheke der Welt.
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn blieb zunächst vage. "Die ganze Welt mit Impfstoff zu versorgen, ist der einzig nachhaltige Weg aus dieser Pandemie", sagte er. Entscheidend seien vor allem der weitere Ausbau von Produktionsstätten und mehr Exporte aus Ländern, in denen produziert wird. Dagegen zeigte sich Außenminister Heiko Maas offen für eine Aufweichung des Patentschutzes. "Wenn das ein Weg ist, der dazu beitragen kann, dass mehr Menschen schneller mit Impfstoffen versorgt werden, dann ist das eine Frage, der wir uns stellen müssen", sagte der SPD-Politiker./jbz/DP/zb
Quelle: dpa-Afx