BERLIN (dpa-AFX) - Der frühere Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble hat sich für einen Stopp russischer Öl- und Gaslieferungen an Deutschland ausgesprochen. "Es wird bitter, aber ich denke, wir müssen schnellstmöglich auf russische Gas- und Öllieferungen verzichten. Wir dürfen nicht immer der Bremser im westlichen Bündnis sein", sagte der CDU-Politiker der "Welt am Sonntag": Die atlantische Solidarität, die Deutschland genießen durfte, sei keine einseitige Sache. "Wir dürfen nicht zurückzucken, wenn es für uns unangenehm wird." Kremlchef Wladimir Putin müsse wissen: "Für unsere Art zu leben, für unsere Freiheit, sind wir bereit, auch substanzielle Opfer zu bringen."
Bundesverkehrsminister Volker Wissing warnte vor einem überstürzten Stopp russischer Energielieferungen. "Es ist sinnvoll, sich energiepolitisch unabhängig zu machen von einem Staat wie Russland, der ohne mit der Wimper zu zucken Völkerrecht bricht und Menschenleben vernichtet", sagte der FDP-Politiker den Zeitungen der Funke-Mediengruppe. "Wir müssen uns aber die nötige Zeit nehmen, um unsere Energieversorgung neu zu gestalten."
Wissing warnte, sonst löse man Prozesse aus, "die uns selbst handlungsunfähig machen". "Unser gesellschaftlicher Zusammenhalt darf nicht erodieren. Nichts wäre Herrn Putin lieber, als dass wir unsere Energiepolitik an die Wand fahren und ihm geschwächt gegenüberstehen."
Die Verwerfungen an den internationalen Energiemärkten und auch Spekulation haben die Kosten für Strom, für das Tanken und Heizen kräftig steigen lassen. Das trifft Verbraucher und Wirtschaft gleichermaßen. Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) verwies in der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" auf die geplante Senkung der Steuern auf Benzin und Diesel sowie die einmalige Sonderzahlung in Höhe von 300 Euro für jeden Erwerbstätigen. Der Staat könne einen Wohlstandsverlust durch steigende Importpreise für Energie aber nicht auf Dauer kompensieren. "Er kann kurzfristig die Folgen abmildern und den Schaden begrenzen", sagte Lindner.
Schäuble betonte, es sei ein Fehler gewesen, trotz der Besetzung der Krim durch die Russen 2014 die Gaspipeline Nord Stream 2 auf den Weg gebracht zu haben. "Ich habe nie ein Hehl daraus gemacht, dass ich diesen Pipeline-Bau für falsch gehalten habe. Es war auch falsch, dass wir einem Verkauf der deutschen Gasspeicher an Gazprom
Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) hatte am Freitag von Fortschritten auf dem Weg zu weniger russischen Gas-, Öl- und Kohleimporten berichtet. Deutschland sei dabei, die Versorgung auf eine breitere Basis zu stellen, hieß es in einem "Fortschrittsbericht Energiesicherheit" seines Ministeriums. Bis zum Sommer werden demnach die russischen Ölimporte nach Deutschland voraussichtlich halbiert. Mit dem Ende des Sommers und zum Herbst hin könne Deutschland komplett auf russische Kohle verzichten, sagte Habeck.
Auch die Energiewirtschaft zeigt sich bei der Suche nach Alternativen zu russischer Steinkohle optimistisch. "Eine vollständige Umstellung der Lieferketten für die Steinkohle-Versorgung der Kraftwerke in Deutschland ist nicht einfach, aber innerhalb der nächsten Monate möglich", sagte Kerstin Andreae, Hauptgeschäftsführerin des Bundesverbands der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW), den Zeitungen der Funke-Mediengruppe. Die Betreiber der Kraftwerke seien im Gespräch mit anderen Lieferländern. Potenzielle Lieferanten seien die USA, Kolumbien, Südafrika, Indonesien, Kanada und Australien.
Beim Gas ist die Lage komplizierter. Der Anteil der russischen Gaslieferungen sank aber laut Habecks Ministerium bereits von 55 auf 40 Prozent. Bis zum Sommer 2024 könne es gelingen, bis auf wenige Anteile unabhängig von russischem Gas zu werden, sagte Habeck. Das hänge aber auch vom Tempo des Ausbaus der erneuerbaren Energien ab - sowie von einer Senkung des Verbrauchs auf allen Ebenen.
Beim BDEW hieß es, rund 50 Prozent des russischen Gases könnten innerhalb etwa eines Jahres ersetzt werden. Dies entspreche etwa 20 Prozent des Jahresgasbedarfs in Deutschland. Importe von Flüssiggas (LNG) könnten zwar einen Beitrag leisten. Auf Dauer müsse jedoch stärker auf erneuerbare Energien und einen schnellen Hochlauf von Wasserstoff gesetzt werden./hgo/sku/hot/tos/DP/he
Quelle: dpa-Afx