HAMBURG (dpa-AFX) - Die Krise des deutschen Schiffbaus hat sich unter anderem mit der Pleite der MV Werften in diesem Jahr weiter zugespitzt. Aus Sicht der IG Metall droht damit innerhalb weniger Jahren der Verlust von Schlüsseltechnologie, die nicht nur für die klimaneutrale Energiewende dringend benötigt wird. Es gehe bei der Erhaltung von Schiffbaukompetenz nicht um die Frage, "ob wir eine Tradition fortführen", sagte der norddeutsche Bezirksleiter der IG Metall, Daniel Friedrich, am Freitag. Angesichts der seit Jahren wachsenden Dominanz Chinas als Schiffbaunation mahnte er: "Es geht um geopolitische Handlungsfähigkeit, nicht nur von Deutschland sondern von Europa."
Deutschland und Europa brauchten eigene Werften und Zulieferer, die durch den Bau von Frachtschiffen und Fähren wirtschaftliche Unabhängigkeit sichern und durch den Bau von Spezialschiffen und Plattformen für die Offshore-Industrie einen wichtigen Beitrag zur Klimawende leisten. "Wenn Sie so wollen, ist Schiffbau kritische Infrastruktur", sagte der Gewerkschafter. "Ich befürchte, dass das aber in weiten Teilen der Politik, aber auch bei manchem Industrievertreter bis heute nicht so wahrgenommen wird."
Die neue Bundesregierung hat in ihrem Koalitionsvertrag zwar das politische Ziel formuliert, dass "durch Innovation und Technologieführerschaft" eine für wettbewerbsfähige maritime Wirtschaft gesorgt werden soll. "Wir stärken den Schiffbau über die gesamte Wertschöpfungskette", heißt es dort ausdrücklich.
Der Gewerkschafter Friedrich vermisst indes bislang politische Taten, die diesen Absichten folgen. "All das, was wir aus Berlin im dem Bereich als Wachstumsmarkt zur Kenntnis nehmen können, hat im Moment keine industriepolitische Untermauerung", kritisierte er. "Im Gegenteil: Wir befürchten, dass zwar die Zukunftschancen gesehen werden, aber die Wertschöpfung dann nicht dazu in Deutschland stattfindet, sondern in Asien." Er appellierte zugleich an die deutschen Reeder, wieder vermehrt Schiffbauaufträge hierzulande zu platzieren. "Es geht nicht um die gute Tat, sondern um Unabhängigkeit."
Nach einer Betriebsrätebefragung im Auftrag der Gewerkschaft sind in der Branche 2022 innerhalb eines Jahres rund 2600 weitere Arbeitsplätze verloren gegangen, so dass mit gut 14 000 Beschäftigten ein absoluter Tiefpunkt erreicht worden sei. "Diese Abwärtsspirale müssen wir so schnell wie möglich stoppen, sonst fehlt uns die Basis einer funktionierenden Wertschöpfungskette", sagte Friedrich. Für die Bestandsaufnahme auf den Werften hat die IG Metall zum 32. Mal Betriebsräte befragen lassen. An der Umfrage der Bremer Agentur für Struktur- und Personalentwicklung mbH (AgS) beteiligten sich Arbeitnehmervertreter von 42 Werftbetrieben.
Insgesamt sind der Studie zufolge in der Kernindustrie Schiffbau 84 611 (Vorjahr: 91 477) Arbeitnehmer beschäftigt - wobei bei die Lage bei den im Weltmarkt sehr erfolgreichen Zulieferern "bei weitem nicht so dramatisch" sei, wie AgS-Forschungsleiter Thorsten Ludwig sagte.
Auf den Werften sei die Situation auf der Beschäftigungsseite indes "deutlich dramatischer als in den letzten zwei, drei Jahren", sagte Ludwig. Er wies darauf hin, dass in den aktuellen Zahlen rund 1900 Beschäftigte der insolventen MV Werften nicht enthalten sind, die zum Teil noch in Transfergesellschaften aufgefangen wurden und auf neue industrielle Konzepte für eine Zukunft für die Werftindustrie im Nordosten hoffen. "Aber faktisch muss man erst einmal sagen, diese Arbeitsplätze auf den Werften sind weg." Bis zum Zeitraum 2030/35 sei damit zu rechnen, dass der deutsche Schiffbau nur noch von drei großen Gruppen beherrscht werde. Bereits heute stellen der AgS-Studie zufolge Thyssenkrupp
Als besonderes Alarmzeichen bewertete Ludwig, dass inzwischen nur noch 46,3 Prozent der Werftbelegschaften in der Produktion tätig seien, nach 55,5 Prozent 2015. "Die Werftindustrie verändert sich in Teilen in gewissen Segmenten zu reinen Ingenieursbuden, die mit der Fertigung nur noch wenig zu tun haben", sagte er. Kritisch bewertete er auch, das sowohl die Zahl der Ausbildungsplätze und als auch die der jüngeren Beschäftigten in der Branche rückläufig seien. "Wenn die jungen Leute aus dieser Industrie herausgehen, weil krisengeschüttelt seit mehreren Jahren die eigene berufliche Zukunft dort nicht mehr gesehen wird, dann ist das ein dramatisches Signal hinsichtlich der Fachkräfteproblematik."/kf/DP/mis
Quelle: dpa-Afx