BERLIN (dpa-AFX) - Angesichts eines Rekords an Corona-Neuinfektionen ringen Bund und Länder um eine angemessene Antwort. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und die Ministerpräsidenten berieten am Mittwochnachmittag erneut in einer Videoschalte. Der Bund will laut einem der Deutschen Presse-Agentur vorliegenden Entwurf ab dem 4. November wegen massiv steigender Corona-Infektionszahlen zeitweise unter anderem Theater, Kinos, Opern oder Konzerthäuser sowie Kneipen, Bars und Diskotheken schließen.
Die Gesundheitsämter meldeten nach Angaben des Robert Koch-Instituts von Mittwochmorgen 14 964 Corona-Neuinfektionen binnen eines Tages - beinahe doppelt so viele wie am Mittwoch vergangener Woche. Die absoluten Zahlen sind mit jenen aus dem Frühjahr nur bedingt vergleichbar, da inzwischen deutlich mehr getestet wird und dadurch auch mehr Infektionen entdeckt werden. In jedem Fall zeigte sich zuletzt aber ein deutlicher Anstieg der Neuinfektionen.
Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) sprach von einem "nationalen Gesundheitsnotstand". Es sei zwar nicht so, dass man Menschen derzeit nicht versorgen könne, sagte er am Mittwoch in Wiesbaden. "Aber wenn wir nicht handeln, dann kommen wir an einen Punkt, wo wir sie nicht mehr versorgen können." Das rasante Wachstum der Infektionsfälle könne nur mit einschneidenden Maßnahmen gestoppt werden. "Das tut weh, das tut mir auch weh. Aber wenn wir sie nicht treffen, dann werden wir noch viel härtere Maßnahmen treffen müssen, die noch viel länger dauern."
Mehrere Politiker äußerten Kritik an den vom Bund vorgeschlagenen Verschärfungen. Linksfraktionschef Dietmar Bartsch nannte die Pläne "vielfach unverhältnismäßig und ineffektiv". "Man treibt die Menschen geradezu in den privaten Raum, wo die meisten Infektionen stattfinden. Das kann niemals bundeseinheitlich über das ganze Land verhängt werden." Bartschs Parteikollege, der thüringische Ministerpräsident Bodo Ramelow, hatte bereits am Dienstag angekündigt, dass er einem möglichen Lockdown-Beschluss nicht zustimmen werde.
FDP-Vertreter warnten ebenfalls vor Unverhältnismäßigkeit. Es sei fragwürdig, die Gastronomie schließen zu wollen, wenn hier tatsächlich nur ein geringes Infektionsgeschehen feststellbar sei, sagte FDP-Partei und -Fraktionschef Christian Lindner mit Blick auf die Überlegungen des Bundes. Der Parlamentarische Geschäftsführer Marco Buschmann unterstrich, dass dadurch die Gefahr bestehe, dass einzelne Maßnahmen wieder an den Gerichten scheiterten.
Auch Niedersachsens Wirtschaftsminister Bernd Althusmann riet von zu harten Beschränkungen ab. Es sei nicht nötig, etwa die Gastronomie zu schließen oder die Produktion bei Volkswagen
Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) warb derweil um Verständnis für bevorstehende härtere Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus. Ohne weitergehende Vorkehrungen würde Mecklenburg-Vorpommern in spätestens zwei Wochen die kritische Marke von 50 Neuinfektionen je 100 000 Einwohner binnen sieben Tagen erreichen, sagte Schwesig im Landtag. Dies zeigten Modellrechnungen der Universität Greifswald.
Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach rief dazu auf, sich nicht mehr in großen Gruppen in Wohnungen treffen. "Große Gruppen im privaten Raum sind ein No-Go", sagte Lauterbach der Deutschen Presse-Agentur. Natürlich gelte die "Unverletzlichkeit der Wohnung" nach Artikel 13 Grundgesetz. "Diese stellt niemand infrage - auch ich nicht", sagte Lauterbach. "Es muss aber auch klar sein: Jetzt ist nicht die Zeit, in größeren Gruppen zu feiern - nicht im Restaurant, nicht im Club und auch nicht in den Wohnungen."
Er sagte: "Die Rückverfolgungen werden dadurch unmöglich gemacht, und die Unterbrechung der zweiten Welle wird verhindert." Das Ziel sei klar: "Den exponentiellen Anstieg von Infizierten, Erkrankten und Toten bremsen." Der Weg dazu sei auch klar: "Wir alle müssen unsere Kontakte massiv reduzieren." Im Frühling habe das geklappt. "Alle haben mitgemacht. Das müssen wir wiederholen."
Der Virologe Christian Drosten von der Berliner Charité betrachtet einen zeitlich begrenzten Lockdown bei hohen Infektionszahlen als sinnvoll. "Wenn die Belastung zu groß wird, dann muss man 'ne Pause einlegen", sagte er in der am Dienstagabend veröffentlichten Folge des "Coronavirus-Update" von NDR-Info. "Dieses Virus lässt nicht mit sich verhandeln. Dieses Virus erzwingt bei einer bestimmten Fallzahl einfach einen Lockdown."
Die Gesamtzahl der Corona-Fälle in Deutschland lag am Mittwochmorgen bei 464 239, die Zahl der Todesfälle bei 10 183 (85 mehr als am Vortag). Das RKI schätzt, dass rund 332 800 Menschen inzwischen genesen sind. Die Zahl der Ansteckungen pro 100 000 Einwohner (die Inzidenzzahl) lag in den vergangenen sieben Tagen bundesweit bei 93,6. In der Woche zuvor (21.10.) hatte das RKI eine Inzidenz von 51,5 Fällen gemeldet. Nach RKI-Angaben haben rund 70 Prozent der Kreise eine Inzidenz von über 50.
Die Reproduktionszahl, kurz R-Wert, lag in Deutschland laut RKI-Lagebericht vom Dienstag bei 1,17 (Vortag: 1,37). Das bedeutet, dass 10 Infizierte knapp 12 weitere Menschen anstecken. Der R-Wert bildet jeweils das Infektionsgeschehen etwa eineinhalb Wochen zuvor ab. Zudem gibt das RKI in seinem Lagebericht ein sogenanntes Sieben-Tage-R an. Der Wert bezieht sich auf einen längeren Zeitraum und unterliegt daher weniger tagesaktuellen Schwankungen. Nach RKI-Schätzungen lag dieser Wert am Dienstag bei 1,21. Er zeigt das Infektionsgeschehen von vor 8 bis 16 Tagen./hrz/DP/jha
Quelle: dpa-Afx