Angesichts der japanischen Zwischenbilanz stellt sich die Frage, worauf die unterschiedlichen Ergebnisse zurückzuführen sind. Für die zuletzt auffallend positive Entwicklung des Mothers-Index gibt es verschiedene Erklärungsansätze - etwa die Indexzusammensetzung. Haben doch die beiden Indexschwergewichte, der Pharmakonzern Sosei Group (19,4 Prozent) und der Roboterhersteller Cyberdyne (11,1 Prozent) zuletzt stark zugelegt. Allerdings kann das auch zum Nachteil werden. So sorgten negativ aufgenommene Geschäftszahlen von Sosei Mitte Mai nicht nur bei dem Unternehmen für eine starke Kurskorrektur. Auch das Börsenbarometer wurde zurückgeworfen. Mikio Kumada, Globaler Stratege bei LGT Capital Partners, hat einen volkswirtschaftlichen Erklärungs-ansatz für das Kursphänomen. "Der TSE Mothers hat sich seit der Entscheidung der Bank von Japan vom Januar (Einführung von Negativzinsen auf einen kleinen Teil der Überschussreserven der japanischen Banken) sehr gut entwickelt", sagt der Experte. "Das sind Indizien, dass die extremste Phase der einseitigen Yen-Stärke bald abklingen dürfte und die Anleger begonnen haben, von der einfachen ,Short-Yen/Long-Nikkei‘-Regel Abstand zu nehmen und den Markt wieder etwas differenzierter zu betrachten. Dass Aktien von binnenmarkt-orientierten, jüngeren Firmen derart positiv reagiert haben, widerspricht jedenfalls der weitverbreiteten These vom scheiternden Reflationskurs Tokios."
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Eldorado für einheimische Spekulanten
Aus Sicht von Jesper Koll vom ETF-Anbieter Wisdom Tree hat die Kursentwicklung auch viel mit der Struktur der Marktteilnehmer zu tun. "Der Mothers-Index ist die Spielwiese der Watanabes und der Handel läuft fast ohne Gaijin-Beteiligung ab", sagt er. Damit meint er, dass sich in dem Segment vor allem spekulativ angehauchte Inländer tummeln, genannt Watanabes nach einem der häufigsten japanischen Familiennamen. Ausländer, sogenannte Gaijin, sind dagegen kaum am Ball (siehe Interview S. 3). Durch das Interesse speziell der Daytrader, die Koll auf 10 000 beziffert, stiegen zuletzt die Handelsumsätze deutlich. Um die Liquidität weiter zu erhöhen, soll in Kürze ein Mothers-Index-Future-Kontrakt eingeführt werden.
Wer einsteigen will, sollte stets bedenken, dass die Kurse im Mothers-Segment stark vom Momentum und der jeweils gerade vorherrschenden Stimmung getrieben werden. Außerdem müssen Investoren bei den Bewertungen in der Regel ein Auge zudrücken. Deutsche Anleger können ohnehin kaum mitmischen, da die meisten Mothers-Aktien in Deutschland nicht handelbar sind, etwa die der Sosei Group.
Andere Werte, wie die Pharma- und Biotechkonzerne AnGes, GNI Group und Nanocarrier, sind zwar handelbar, aber die Umsätze sind häufig gering und die Spreads hoch. Nicht zuletzt deswegen drängen sich Investments nicht auf. Fonds sind eine Alternative, sie legen den Schwerpunkt aber auf Nebenwerte außerhalb des Mothers-Segments. Eine interessante Story hat theoretisch Mixi zu bieten, der drittschwerste Wert aus dem Mothers-Index. Zumindest dann, wenn es der mit mehr als 29 Millionen Teilnehmern größten japanischen Social-Network-Seite gelingt, die mit diesem Status verbundenen Vorteile zu monetarisieren. Die Bewertung ist ausnahmsweise optisch attraktiv. Das trifft auf Adways derzeit zwar nicht zu, das digitale Werbenetzwerk ist aber in aussichtsreichen Bereichen aktiv, etwa als Anbieter von Smartphone-Apps. Der Kurs ist nach längerer Talfahrt jüngst aus dem Abwärtstrend ausgebrochen. Womöglich haben die Spekulanten unter den Watanabes mit diesem Titel ein neues Spielobjekt gefunden.
Auf Seite 3: Interview
"Ein Spielplatz für lokale Daytrader"
Börse Online: Herr Koll, wie würden Sie das Mothers-Segment charakterisieren?
Jesper Koll:
Es handelt sich um den wichtigsten Spielplatz für die lokalen Daytrader. Hier wird richtig spekuliert und die Kurse werden von Themen getrieben. Zuletzt wurden in dieser Hinsicht beispielsweise Medizintechnik, Fintech oder Casinos gespielt. Was hier passiert, hat wenig mit Fundamentalanalyse zu tun. Das Segment hat deshalb den Ruf, hochspekulativ zu sein.Vermutlich mit Folgen für die Bewertungen?
Ja. Während sich bei den Leitindizes, wie dem Nikkei 225 oder dem Topix, die Bewertungen auf Basis des Kurs-Gewinn-Verhältnisses (KGV) in den vergangenen Jahren internationalen Durchschnittswerten angepasst haben, sind die Bewertungen im Mothers-Segment oft noch sehr hoch. KGVs von 60 oder 70 sind da keine Seltenheit.
Und woher rührt die jüngste Outperformance des Mothers-Index?
Viel davon dürfte mit der Risikobereitschaft unter den Anlegern zu tun haben. Es hängt viel damit zusammen, ob an den Weltbörsen gerade Risikobereitschaft angesagt ist oder nicht. Ist das nicht der Fall, ist das schlecht für den Nikkei-225-Index. Denn dort sind Ausländer für 70 bis 75 Prozent der Umsätze verantwortlich. Am Mothers-Segment beträgt deren Umsatzanteil dagegen nur 15 bis 20 Prozent. Das Kursgeschehen wird somit mehr von den heimischen Spekulanten dominiert. Außerdem sind auch die Wechselkurseinflüsse zu beobachten. Während die Gewinne bei den Topix-Vertretern zu 80 bis 85 Prozent an den Exporten hängen, sind es bei den kleineren Unternehmen weniger als acht Prozent. Wertet der Yen auf wie zuletzt, macht sich das bei den Nebenwerten weniger negativ bemerkbar.
Wie sieht es denn mit Research und Analysen zu den im Mothers-Segment vertretenen Werten aus?
Dazu gibt es so gut wie kein Research. In Japan werden an allen Börsenplätzen insgesamt rund 3600 Titel gehandelt. Selbst der Marktführer Nomura deckt mit Analysen nur 650 bis 700 Unternehmen ab.
Ergänzend noch zwei Fragen zur Volkswirtschaft. Japan hat eine geringe Arbeitslosenquote und ein Wachstum, das in etwa dem Potenzial entsprechen dürfte. Warum wird trotzdem so eine aggressive Wirtschaftspolitik betrieben?
Die Geldpolitik ist expansiv, aber die Fiskalpolitik ist eher restriktiv. Und ja, das Potenzialwachstum beträgt 0,5 Prozent und der Arbeitsmarkt ist in den vergangenen Jahren überraschend gut angesprungen. 2015 wurden sogar erstmals seit 16 Jahren wieder netto Vollzeitstellen und nicht nur Teilzeitstellen geschaffen. Das heißt, die Qualität der Arbeitsplätze ist besser geworden - ein Trend, der anhalten dürfte. Denn der Pool an High-School- und Uni-Abgängern schrumpft künftig um rund 250 000 jährlich und es besteht bereits eine Knappheit bei Fachkräften. Zuletzt fanden 98 Prozent der Hochschulabgänger innerhalb von zehn Tagen eine Vollzeitstelle. So gesehen ist Japan ein Paradies für junge, qualifizierte Arbeitssuchende. Auch die Löhne steigen und die Bodenpreise ziehen erstmals seit 30 Jahren an. Das hilft auch dem nationalen Einkommen, das zuvor seit 1992 stagnierte.
Was für Wirkungen zeigt denn inzwischen die Niedrig- beziehungsweise Negativzinspolitik, die Japan verfolgt?
Die Renditen im Zehnjahresbereich sind zuletzt von 1,4 Prozent auf 0,6 Prozent gesunken. Das bewirkt mit Wucht eine Refinanzierung der Hypothekendarlehen. Diese Refinanzierungen sind jüngst um das Sechsfache gestiegen. Das heißt, es kommt zu einer Umverteilung von Gewinnen weg von den Banken und hin zum Normalverbraucher. Das ist schlecht für die Banken, aber die können das verkraften, denn es handelt sich um die stärksten Banken weltweit. Dafür steigen die verfügbaren Einkommen der Privathaushalte. Im Bauwesen selbst werden neuerdings übrigens gar Projekte mit Negativzinsen finanziert.