Ließe die Zukunftsphantasie für Aktien tatsächlich nach, gäbe es theoretisch klare Argumente für den berühmt-berüchtigten Mai-Effekt.

An der Börse jagte ein Top Act den nächsten


Eigentlich ertrinken die Aktienbörsen in positiven Nachrichten. Über üppigste Fiskalprogramme haben sich die Wachstumsaussichten weltweit rapide verbessert, insbesondere in der Industrie. Das unterstreicht ein Kupferpreis auf 10-Jahreshoch und die aktuelle Berichtsaison mit exzellenten Ausblicken. Zwar hat gerade der dritte, der Bundes-Lockdown angefangen. Doch auch bei uns wird immer mehr gepikst. Das ermöglicht im Sommer viele Wiedereröffnungen auch im zurzeit darbenden Dienstleistungssektor und bei Selbstständigen.

Da gleichzeitig die Notenbanken dem Zinssparen als Alternativanlageform die Existenzgrundlage entzogen haben, blicken Anleger eigentlich auf eine perfekte Aktien-Welt: Fundamental- und Liquiditätsdaten haussieren beide gleichzeitig.

Dennoch, wenn Börse Zukunft bezahlt und diese bereits in hohen Kursen eingepreist wäre, hätte der Mai-Effekt seine Berechtigung.

Die Aktienmärkte sind wie verwöhnte Kinder: Sie wollen immer noch mehr


Tatsächlich scheint man die Dynamik nur noch mit immer mehr positiv überraschenden Daten aufrechterhalten zu können. Wenn nicht, dann könnten schon kleine "Unterraschungen", Enttäuschungen oder ein Kraftverlust der bisherigen Megathemen gerade in der Saure Gurken-Zeit saisonal eher schwächerer Umsätze negative Wirkung entfalten.

So befindet sich der ökonomische Überraschungsindex der Citigroup für die Weltwirtschaft, der Mitte 2020 fast senkrecht angesprungen ist, aktuell nur noch in einer Seitwärtsphase. Der deutsche Aktienmarkt, der vorher noch massiv beflügelt wurde, zeigt im Vorjahresvergleich jetzt weniger Schmackes.

Zwar läuft zurzeit eine durchaus üppige Dividendensaison. Doch mit jedem Ausschüttungstermin wird die Dividendenwiese weiter abgegrast.

Und dann wären da noch die Steuererhöhungspläne Joe Bidens. So etwas kennt man seit 1993 nicht mehr. Erhöhungen von Unternehmens- und Kapitalertragssteuern gießen grundsätzlich Wasser in den süßen Aktien-Wein, so wie umgekehrt die Steuersenkungen Trumps den Öchsle-Wert erhöhten.

Nicht zuletzt das Megathema Geldpolitik: Warum sollte sie ihre zins- und liquiditätspolitische Rettungsmission fortsetzen, wenn sich die Konjunkturdaten merklich verbessern und die Inflation mit Getöse wieder aus ihrem Versteck kommt? Wenn ein Brand gelöscht ist, rückt die Feuerwehr ja auch wieder ab, oder?

Also, wenn die Aktienmärkte keine neuen Allzeithochs mehr erreichen, spricht dann nicht viel dafür, dass Gewinne gemäß Mai-Effekt über den Sommer mitgenommen werden? Vor allem institutionelle Anleger wie Hedgefonds könnten die Argumentationsschwäche nutzen: Mit ihrer Marktmacht und Leerverkäufen die Börsen nach unten treiben, um anschließend günstig einzusammeln.

Die Steherqualitäten der Börse sollten nicht unterschätzt werden


Zunächst ist zu erwarten, dass sich der Wirtschaftsaufschwung bis 2023 fortsetzt. Das spricht für steigende Unternehmensgewinne und damit verbesserte Bewertungsrelationen.

Und in den USA fällt die verdoppelte Kapitalertragssteuer nur bei Einkommen über eine Million Dollar und auch nur auf Kursgewinne an, nicht auf Dividenden, die wie bisher versteuert werden. So werden Aktien im Durchschnitt länger gehalten, was deren Kursstabilität erhöht. Ohnehin müssen die Steuererhöhungspläne für Unternehmen mit den imposanten Infrastrukturpaketen gegengerechnet werden, die nachhaltiges Wachstumspotenzial bieten. Zudem gilt auch in Amerika: Ein (Steuer-)Gesetz geht anders aus beiden Häusern des Parlaments als es reingegangen ist. So könnten z.B. Abschreibungsmöglichkeiten für Investitionen in den Klimaschutz gewährt werden. Außerdem ist ein Standort nicht nur aus Steuersicht zu beurteilen. Es geht auch um weitere Standortqualitäten wie weniger Bürokratie oder politische Drangsalierung. Hier hat Amerika weit die Nase vorn.

Dann zur Angst über eine bevorstehende geldpolitische Schubumkehr: Die Finanzierung des grünen Wirtschaftsumbaus, der Infrastruktur und der Digitalisierung im Kampf um die globalen Industrie-Fleischtöpfe sowie eine erdrückende Schuldenlast lassen keine notenbankseitige Zinswende zu, die den Namen verdient. Und welcher Politiker riskiert nach den Erfahrungen der Immobilien- bzw. Schulden-Krise denn erneut den (finanz- und sozial-) politischen Euro-Frieden, bei dem der EZB die Rolle des Friedensengels zukommt. In der Werbung einer Kette für Elektronikgeräte heißt das: "Ich bin doch nicht blöd". Ihre Rettungspolitik ist wie New York, sie schläft nie, auch nicht in der warmen Jahreszeit. Übrigens hat ausgerechnet im Sommerloch 2015 die Lösung der Griechenland-Krise dem DAX ein Plus von 20 Prozent beschert.

Selbst wenn es irgendwann zu Restriktionen kommt, werden sie gemäß dem Motto ablaufen "Es kreiste der Berg und gebar eine Maus". Ist es denn wirklich Aktien-schädlich, wenn weniger Netto-Liquidität in die Märkte gepumpt wird? Zwar könnten dann die Zinsen etwas steigen. Aber real bleibt nichts davon übrig oder sie bleiben weiter negativ, wenn Inflation wegen ihrer Entschuldungsfunktion geldpolitisch geduldet wird. Würden Vermögensverwalter dennoch groß in Zinspapiere investieren, würden sie riskieren, dass ihre Kunden zu Fluchttieren werden. Überhaupt, wenn Inflation laufen gelassen wird, ist sie kein Feind, sondern ein Freund des Sachkapitals und damit der Aktienmärkte.

Nicht Börsenregeln, sondern der Markt hat Recht


Eine internationale Finanzwelt stört sich nicht an westlichen Saisonregeln. Heutzutage passiert irgendwo auf der Welt fast jeden Tag irgendetwas, was aufgrund der Dominosteine der Globalisierung irgendwie alle Börsen betrifft.

Und mancher Hedgefonds hat sich schon beim Versuch, substanzlose Aktien zu stürzen, die Finger verbrannt. Das wird man kaum bei Aktien versuchen, die ein stabiles Geschäftsmodell haben. Am Ende müssen sie ihre Leerverkäufe eindecken und geben damit der Aktien-Rallye weiteren Schub.

Übrigens, unterzieht man die Mai-Börsenweisheit einer historischen Überprüfung, ist ein statistisch signifikanter Zusammenhang nicht festzustellen. Damit ist sie nicht viel überzeugender als die Wetterweisheit: Wenn der Hahn kräht auf dem Mist, ändert sich das Wetter, oder es bleibt, wie es ist. Insgesamt macht es für den Privatanleger keinen Sinn, systematisch und konsequent auf diese saisonale Börsenweisheit zu setzen. Ansonsten gäbe es an der Börse nur noch Millionäre.

Selbst wenn die saisonale Börsenregel zuträfe, wäre sie ja nicht unbedingt ein Grund, den Aktienmarkt zu verlassen. Gerade sinkende Kurse sind doch ein attraktives Umfeld für regelmäßige Aktiensparpläne als solide Form der Altersvorsorge. Und wenn es dann ab Herbst wieder aufwärtsginge ("…but remember to come back in September"), hätte man die wirkliche Weisheit "Im Einkauf liegt der Gewinn" bestens befolgt.

Allerdings wird wohl die Volatilität zunehmen und die Rotation wichtiger. Es gibt weniger klare Trends. Mal läuft Value, dann Growth, mal die IT-Werte, dann wieder die Zykliker. Und die Umwelt- und alternativen Energietitel werden auch wieder ihre Zeit haben. Der Aktienmarkt ist wie eine Schachtel Pralinen: Irgendetwas schmeckt immer. Und für einen geschmacklosen Crash spricht nichts.

Rechtliche Hinweise / Disclaimer und Grundsätze zum Umgang mit Interessenkonflikten der Baader Bank AG: https://www.roberthalver.de/Newsletter-Disclaimer-725

Robert Halver leitet die Kapitalmarktanalyse bei der Baader Bank.