Chris Shumway wirkt ein wenig geknickt, als er auf einen Chart mit einem Bündel abgestürzter Aktien blickt. "Amazon gehört zu den schlechtesten Werten dieses Jahres", sagt der einflussreiche US-Hedgefondsmanager auf dem Podium einer Investorenkonferenz in New York. Und: "Kurzfristig steht die Aktie erheblich unter Druck."
Nicht nur Shumway bereitet der Absturz beim weltgrößten Onlinehändler Kopfzerbrechen. Seit Januar ging es mit Amazon - wie mit vielen Internetwerten - bergab. Der Kurs stürzte von über 400 auf unter 300 Dollar am Tiefpunkt. Viele Investoren bemängeln die Strategie von Amazon-Chef Jeff Bezos: Das Unternehmen verdiene einfach zu wenig Geld. Verständlich. Denn aus fast 20 Milliarden Dollar Umsatz holte der Konzern im Auftaktquartal mickrige 108 Millionen Gewinn.
Der Gründer des weltumspannenden Handelsimperiums im Web ignoriert Kritiker wie Shumway - obwohl er selbst in jungen Jahren für einen Hedgefonds gearbeitet hat. Stattdessen investiert Bezos wie im Rausch. Sein Credo: auf Gedeih und Verderb Marktanteile sichern. Der Umsatz soll steigen, und zwar fix.
In der Tat stiehlt der E-Commerce dem konventionellen Einzelhandel rasend schnell die Show. In den USA macht Internetshopping inzwischen laut Händlerverband National Retail Federation elf Prozent des gesamten Einzelhandelsvolumens von gut drei Billionen Dollar aus - Tendenz steigend. Und der Marktanteil von Amazon wächst.
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Unheimliche Umsatzorgie
Der stationäre Handel kämpft hingegen
ums Überleben. Die 100 Jahre
alte Kaufhauskette Loehmann’s
schloss in den USA gerade ihre Pforten.
Konkurrent J.C. Penney bemüht
sich händeringend, den schwindsüchtigen
Umsatz zu stabilisieren.
Viele andere Einkaufszentren erleben
eine Dauerflaute.
Bezos’ rigorose Wachstumsstrategie
kostet aber horrende Summen.
Von Januar bis März steckte der
Amazon-Chef quasi jeden zusätzlichen
Penny an Umsatz - fast 3,7 Milliarden
Dollar - in den Ausbau des
Sortiments. Fahrräder, Waschmaschinen,
Herde, Wasserhähne, Tierfutter,
Autoreifen - inzwischen gibt
es fast alles beim ehemaligen Buchhändler.
Die Logistikzentren werden jetzt
abermals erweitert. Der Lebensmittelversand
ist die neueste Errungenschaft.
Die notwendigen Kühlketten
samt eigener Lkw-Flotte baut der Titan
gerade schrittweise auf. In zwölf
US-Metropolregionen landen Bestellungen
bereits am gleichen Tag beim
Kunden, etwa in New York, Los Angeles
oder Dallas. Stetig kommen
neue Millionenstädte hinzu. Der
Dienst "Prime Pantry" ist bislang
Kunden vorbehalten, die eine Abogebühr
entrichten.
Daneben rüstet der Amazon-Boss
auch im digitalen Bereich auf. Per
digitalem Lesegerät Kindle verkauft
der Onlinehändler seine Bücher inzwischen
häufiger elektronisch als
in Papierform. Hochwertiges Videostreaming
oder Webdienste für Unternehmen
wie Datenbanksoftware
aus dem Internet - all das rundet das
digitale Geschäft ab. Gerüchten zufolge
will Amazon im Sommer sogar
ein eigenes Smartphone mit einem
preisaggressiven Datentarif auf den
Markt bringen - in Kooperation mit
dem Telekomriesen AT & T.
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Besessener Kundenliebhaber
Bezos’ größte Stärke aber ist seine
Besessenheit, die Kunden zufriedenzustellen.
Der vierfache Familienvater
liest gern Beschwerden - er will
einfach wissen, warum etwas schiefläuft.
Von Mitarbeitern verlangt er
im Reklamationsfall äußerste Kulanz.
"Wir sind innovativ, indem wir
beim Kunden anfangen und uns
rückwärts organisieren", erklärt der
Amazon-Chef seine Strategie. Reibungslos,
günstig, blitzschnell - so
soll der Versand erfolgen.
Die Gehälter hingegen sind mager.
Selbst in der obersten Ebene fließen
überschaubare Saläre. Finanzvorstand
Thomas Szkutak, Konsumentenchef
Jeffrey Wilke und Webservicevorstand
Andrew Jassy kassierten
2013 jeder weniger als 170 000 Dollar -
ungewöhnlich angesichts von 117 000
Mitarbeitern. Allen Beschäftigten bietet
Bezos zudem einen Abschiedsbonus
von bis zu 5000 Dollar -
wer nicht motiviert ist, bleibt nicht.
Soeben wurde Bezos vom internationalen
Gewerkschaftsbund zum
unbeliebtesten Chef des Planeten gekürt.
Was Börsianern missfällt, sind
unberechenbare Ergebnisse. So gab
es im Jahr 2011 einen Überschuss von
631 Millionen Dollar, im Jahr darauf
waren es 39 Millionen Dollar Verlust.
Die Investitionsphase verlangt Opfer
- Bezos selbst sagt, er wisse nicht genau,
wie lange sie andauern werde.
Vom Stammsitz in Seattle heißt es,
am Ende des Jahrzehnts könne die
Erntephase
beginnen, eventuell ein
paar Jahre früher. Auch Hedgefonds-
Lenker Shumway macht sich nicht
wirklich Sorgen um Amazon - zumindest
nicht langfristig.
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