Keine zehn Jahre hat es gedauert: Der im Jahr 2011 gegründete Essenslieferant Delivery Hero steht seit kurzem auf der Kurstafel des DAX - und damit quasi auf Augenhöhe mit Traditionskonzernen wie BASF und Siemens. Der Aufstieg des Berliner Start-ups zeigt die Dynamik, mit der die digitale Revolution die Wirtschaft auch in Deutschland aufwühlt. Ein Trend, der durch die ökonomischen Schäden der Corona-Krise beschleunigt wird, aber auch strukturelle Schwächen des DAX offenlegt.
Delivery Hero ist nach dem Immobilienkonzern Deutsche Wohnen bereits der zweite DAX-Neuling in diesem Jahr. Auf der Strecke geblieben sind Lufthansa und Wirecard. Der nächste Wechsel folgt womöglich bereits im September, wenn die große jährliche Überprüfung ansteht. Die Daten zeigen, dass der Spezialchemiekonzern Covestro auf der Kippe steht. Die Liste der Wackelkandidaten ist sogar deutlich länger.
Unter den 30 nach Börsenwert größten Unternehmen in Deutschland befinden sich schon jetzt vier, die aktuell nicht im DAX vertreten sind. Aufgehalten werden sie durch das komplizierte Regelwerk der Deutschen Börse: Für die Mitgliedschaft im Index ist nicht nur die Marktkapitalisierung der frei handelbaren Aktien entscheidend, sondern auch die Handelsumsätze dieser Aktien an der Frankfurter Wertpapierbörse. Dieses zweite Kriterium wird vor allem Airbus zum Verhängnis. Die klare Mehrheit der Papiere des Luftfahrtkonzerns wird in Paris herumgereicht. Darum schafft es Airbus in Deutschland nur in den MDAX, also in die zweite Liga.
Andere Kandidaten scheitern oft an einem anderen Handikap: Für Aufsteiger sind die Hürden höher als für ein Unternehmen, das bereits im Index ist. Das alles soll die Zahl der Wechsel in Grenzen halten, führt aber auch zu seltsamen Konstellationen. Covestro beispielsweise liegt aktuell nach Marktkapitalisierung auf Rang 40 und könnte trotzdem den Klassenerhalt schaffen, während Symrise trotz Platz 25 draußen bleiben müsste.
Attacke aus der zweiten Reihe
Mit den Aktienkursen steigt meist auch das Handelsvolumen und damit die Wucht der Angreifer. Die großen Trends an den Aktienmärkten, vor allem die Digitalisierung und Corona, haben die Machtverhältnisse schon jetzt verschoben. Gelitten haben zuvorderst Industriewerte. Der Wert der Volkswagen-Vorzüge im DAX ist inzwischen niedriger als der des Immobilienkonzerns Vonovia. Continental, Covestro, HeidelbergCement und MTU sind nach Marktkapitalisierung aus den Top 30 gefallen. Neben Symrise machen der Onlinehändler Zalando, der Laborausrüster Sartorius und Qiagen aus der zweiten Reihe Druck. Die Biotechfirma liegt nach Marktkapitalisierung auf Rang 31, steht bei den Handelsumsätzen aber besser da als die anderen potenziellen Aufsteiger und ist damit erster Kandidat für eine Covestro-Nachfolge.
Schon bald ein DAX-Anwärter wird Healthineers sein. Die Siemens-Tochter hat bislang noch das Handikap, dass der Mutterkonzern 85 Prozent der Aktien hält und damit nur 15 Prozent der Marktkapitalisierung in die Statistik der Deutschen Börse einfließen. Es gibt aber Bewegung: Durch eine Kapitalerhöhung soll der sogenannte Freefloat auf 28 Prozent steigen. Das würde Healthineers in Reichweite des DAX katapultieren.
Wirecard und die Folgen
Größere Konsequenzen für den Index könnte der Absturz von Wirecard haben. Die Deutsche Börse hat in einem ersten Schritt das Regelwerk ergänzt, um Unternehmen im Fall einer Insolvenz zügig verbannen zu können. Weitere Schritte könnten folgen: Die Indexhüter haben sich entschlossen, das Regelwerk einer vertieften Prüfung zu unterziehen. Derzeit läuft eine Umfrage unter Marktteilnehmern. Die Ergebnisse sollen bis Jahresende bekannt gegeben werden.
Die Börse muss dabei viele, teilweise entgegengesetzte Standpunkte zusammenführen: Fondsgesellschaften haben nicht unbedingt Interesse an einem starken DAX, weil dieser für aktiv gemanagte Fonds schwerer zu schlagen wäre. Die Anbieter von Indexfonds legen vor allem Wert auf Kontinuität, weil jeder Wechsel eine organisatorische Herausforderung ist. Unternehmen wiederum freuen sich über die mediale Aufmerksamkeit, die ein Platz in der Indexfamilie bringt, einige klagen aber über die zusätzliche Arbeit. So müssen sie zum Beispiel Quartalsberichte erstellen. Allianz hatte unlängst angeregt, es bei Berichten zum halben und vollen Geschäftsjahr zu belassen.
Das größte Interesse an einem starken DAX mit transparenten Unternehmen haben die Anleger: Allein über iShares, dem größten ETF-Anbieter, sind immerhin sechs Milliarden Euro direkt in den DAX investiert. Der Absturz von Wirecard hat somit auch viele Anleger geschädigt, die gar nicht direkt in die Firma investiert hatten.
Hätte das Debakel verhindert werden können? "Die Frage ist, ob man nicht auch weiche Kriterien berücksichtigen sollte, beispielsweise die Qualität der Corporate Governance. Dadurch könnte man verhindern, dass Unternehmen wie Wirecard in den DAX aufgenommen werden", gibt Silke Schlünsen, Leiterin des Corporate Brokerage bei der Mainfirst Bank, zu bedenken.
DAX 200
Auf die Tagesordnung rücken könnte eine Erweiterung des DAX. Die 30 im Index enthaltenen Titel repräsentieren rund 80 Prozent der Marktkapitalisierung börsennotierter Aktiengesellschaften in Deutschland. Aber auch die kleineren Titel bieten Potenzial.
"Eine Erhöhung der Zahl der Unternehmen im DAX auf beispielsweise 50 halte ich für sinnvoll, da so die deutsche Unternehmenslandschaft besser abgebildet würde. Auch die Unternehmen profitieren davon, denn ihre Sichtbarkeit und Bekanntheit steigt mit der DAX-Zugehörigkeit", erklärt Christine Bortenlänger, geschäftsführender Vorstand beim Deutschen Aktieninstitut. Und weiter: "Das Gewicht einzelner Branchen wie der Automobilindustrie nähme zugunsten heute unterrepräsentierter Sektoren ab. Mehr Vielfalt und Breite stünden dem DAX, dem Aushängeschild der deutschen Volkswirtschaft, gut zu Gesicht."
Indexexpertin Schlünsen bringt noch eine andere Variante ins Spiel: "Ein DAX mit 35 Unternehmen würde die Vielfalt des Index vergrößern. Für Anleger attraktiv wäre auch ein DAX 200, der nahezu den gesamtem deutschen Aktienmarkt abdecken würde."
INVESTOR-INFO
Qiagen
Test-Sieger
Nachdem die Übernahme durch den US-Konzern Thermo Fisher geplatzt ist, richtet sich der Blick bei Qiagen nach vorn. Die Pandemie bringt den Rheinländern mit ihrem Portfolio an Covid-19-Testlösungen erhebliches Umsatzpotenzial. So will das Unternehmen Ende August in den USA einen Test einführen, der Covid-19-Antikörper innerhalb von zehn Minuten nachweisen kann. Commerzbank und Citi haben die Aktie gerade auf "Kaufen" hochgestuft. Der Ausblick des Unternehmens für 2021 sei konservativ, so die Citi.
Empfehlung: Kaufen
Kursziel: 55,00 Euro
Stoppkurs: 36,00 Euro
Zalando
Web-Gewinner
Die Pandemie hat Onlinehändlern viele neue Kunden gebracht. Weil der Einkauf im Internet bequem ist, dürfte dieser Trend auch unabhängig von der Corona-Krise anhalten. Zalando ist als Europas größter Internet- Modehändler bestens positioniert. Im zweiten Quartal konnten die Berliner ihr bereinigtes Betriebsergebnis mehr als verdoppeln. Die Zahl der Kunden stieg derweil um 20 Prozent auf mehr als 34 Millionen. Wir sehen für die Aktie weiter Kurspotenzial.
Empfehlung: Kaufen
Kursziel: 85,00 Euro
Stoppkurs: 48,00 Euro