Mr. Milligan, die Zinsen sind derzeit so niedrig wie lange nicht. Sind die Notenbanken daran schuld? Oder spielen andere Faktoren hier eine Rolle?
Andrew Milligan: Man könnte sicherlich argumentieren, dass die Notenbanken die Zinsen manipuliert haben. Dies hat Auswirkungen auf die Finanzmärkte. Schauen wir beispielsweise auf die Situation in der Eurozone. Warum sind die Renditeaufschläge von Unternehmensanleihen gegenüber Staatsanleihen gefallen? Weil die Anleger mit hohen Profiten und weniger Zahlungsausfällen rechnen? Oder weil die Europäische Zentralbank (EZB) wieder Unternehmensanleihen kaufen möchte? Vermutlich eher, weil Anleger vor der EZB einsteigen möchten und nicht weil sich der Ausblick dieser Anleihen fundamental verbessert hat. Dennoch beschuldigen wird die EZB zu sehr. Es gibt viele strukturelle Probleme weltweit, die zu einem langsameren Wachstum und einer niedrigeren Inflation führen, die sie allein nicht lösen kann.

Wieso?
Die Zinsen sind in den vergangenen 20 bis 30 Jahren bereits stetig gefallen. Das hat aus Sicht vieler Ökonomen mit verschiedenen Effekten zu tun. In den Industrieländern und vielen Emerging Markets wird die Bevölkerung im Schnitt älter, was ihr Konsum- und Sparverhalten ändert. Zudem ist die Produktivität in den vergangenen Jahren nicht mehr so stark gewachsen und vielen Firmen investieren heute weniger kapitalintensiv.

Bleiben die Zinsen daher länger so niedrig?
Vermutlich schon. Bislang dachten viele Ökonomen, dass die Zinsen nach dem nächsten Konjunkturzyklus wieder steigen. Mittlerweile herrscht die Meinung vor, dass die Zinsen strukturell für längere Zeit niedrig bleiben werden.

Viele Anleger sorgen sich momentan, dass die Weltwirtschaft 2020 in eine Rezession gerät. Sind diese Sorgen berechtigt?
Diese Frage ist für Anleger tatsächlich sehr relevant. Denn käme es zu einer Rezession, könnten die Aktienkurse durchaus um 20 bis 30 Prozent fallen. Wir rechnen im nächsten Jahr jedoch nicht mit einer Rezession. Dennoch dürfte das globale Wirtschaftswachstum weiterhin langsam bleiben.

Die deutsche Industrie befindet sich aber schon im Abschwung.
Das stimmt. Zudem ist der weltweite Handel in den vergangenen zwölf Monaten kaum noch gewachsen, was die deutsche Wirtschaft besonders stark belastet. Auf der anderen Seite entwickelt sich der Konsum in vielen Ländern sehr gut, weil die Löhne steigen. Auch bei etlichen Dienstleistungsunternehmen läuft es sehr gut, wie beispielsweise in der Gesundheits- und Technologiebranche. Insofern haben wir eine Divergenz. Der weltweite Handel stagniert, während sich die Arbeitsmärkte gut entwickeln.

In den USA könnten die Renditen langlaufender Staatsanleihen unter die Renditen kurzlaufender Treasuries fallen. Diese sogenannte inverse Zinskurve gilt als zuverlässiger Indikator für eine Rezession. Wie schätzen Sie diesen Indikator ein?
Eine invertierte Zinskurve führt meistens zu einer Rezession, aber nicht immer. Das hängt von vielen Faktoren ab. Ist die Zinskurve kaum oder sehr stark invertiert? Wie lange dauert die Inversion? Derzeit ist die US-Zinskurve eher flach. Zudem kann es zwei bis drei Jahre dauern, bis es zu einer Rezession kommt, auch wenn das Signal korrekt ist.

Sie sind also unbesorgt?
Nein, wir sind natürlich schon in Sorge. Aber man sollte weitere Indikatoren hinzuziehen. Wenn man nur Signale aus der Industrie betrachtet, liegt die Wahrscheinlichkeit einer Rezession in 2020 bei 20 bis 35 Prozent. Wenn Sie einen breiteren Datensatz einbeziehen, ist die Wahrscheinlichkeit geringer. Am Anfang jeden Jahres gibt es aber immer ein Rezessionsrisiko. Im Schnitt beträgt die Wahrscheinlichkeit dafür zehn Prozent.

In den USA wird im November 2020 ein neuer Präsident gewählt. Wie sehr beeinflusst dies die US-Wirtschaft?
Ich wäre überrascht, wenn es in 2020 schon zu einer Rezession käme. Denn in Wahljahren passiert dies sehr selten. In 2021 dürfte das Risiko dafür höher sein, weil etwaige fiskalische Maßnahmen der Regierung dann auslaufen.

Inwiefern spielt es für die Börsen eine Rolle, ob Donald Trump wiedergewählt wird oder ein Demokrat das Weiße Haus erobert?
Für eine genaue Analyse ist es noch zu früh. Schließlich wissen wir noch nicht, wer für die Demokraten gegen Donald Trump antreten wird. Trump dürfte aber wohl weiterhin für niedrigere Steuern und eine geringere Regulierung stehen, während es bei den Demokraten tendenziell umgekehrt ist. Viel hängt auch davon ab, wer bei den anderen Wahlen gewinnt.

Was meinen Sie damit?
Im November 2020 wird nicht nur der Präsident neu gewählt, sondern auch alle Mitglieder des Repräsentantenhauses sowie ein Drittel des Senats, die die Macht des Präsidenten begrenzen können. Außerdem sind da noch die Gouverneure der Bundesstaaten. Erst dann können wir präzise abschätzen, in welche Richtung sich die US-Politik bewegen wird und wie sie andere Regierungen beeinflussen könnte. Etwa in Bezug auf stärkere staatlicher Eingriffe oder einer stärkere Regulierung der Technologiebranche.

Donald Trump hat den Handelsstreit mit China eskaliert. Würde dieser Streit nach seiner Abwahl enden?
Nein, dieser Konflikt wird auf absehbare Zeit nicht verschwinden. Egal, wer die Wahlen 2020 gewinnt. Dahinter steht eine viel größere Frage.

Nämlich?
Es hat schon immer Mächte gegeben, die von anderen herausgefordert wurden. Denken Sie etwa an das British Empire, das von 1871 bis 1914 vom Deutschen Reich herausgefordert wurde. Nun verläuft dieser Konflikt zwischen den USA und China. Denn China holt mit seinem Militär und seiner Technologie massiv auf.

China könnte also schon bald an den USA vorbeiziehen?
Die USA dürften noch einige Zeit die weltweit größte Ökonomie bleiben. Denn das chinesische Wachstum wird allmählich unter sechs Prozent fallen, dann unter 5 Prozent und so weiter. Zudem hat das Land viele ineffiziente Staatsfirmen und muss noch beweisen, dass es die sogenannte Middle Income Trap überwinden kann.

Was bedeutet der Konflikt zwischen den USA und China für Anleger?
Es gibt hier keine langfristige Story nach dem Motto: Kaufe für die nächsten 20 Jahre chinesische oder US-Aktien. Anleger müssen hier kurz- bis mittelfristiger agieren und sollten bedenken, dass chinesische Aktien sehr viel zyklischer sind als US-Aktien. Ein taktischer Ansatz ist erforderlich.

Wie sollten Anleger ihr Portfolio aktuell aufstellen?
Wir rechnen weder mit einer Rezession noch mit einem Bullenmarkt. Insofern bleiben wir moderat optimistisch. Wir mögen Aktien aus den Japan, den Schwellenländern und den USA. Auf der Bondseite gefallen uns australische Staatsanleihen sowie Emerging-Markets- und High-Yield-Bonds. Was müsste passieren, damit Ihr Szenario nicht aufgeht?
Die Gewinne der Unternehmen müssen weiterhin wachsen. Andernfalls geraten wir in Schwierigkeiten. Wie würden Sie reagieren, falls Sie falsch liegen sollten?
Wir würden beispielsweise stärker in Cash oder langlaufende inflationsgeschützte US-Staatsanleihen gehen. Zudem könnten wir in Safe-Hafen-Währungen wie den Schweizer Franken oder den japanischen Yen investieren. Generell agieren wir taktischer und halten Ausschau nach Anlageklassen, die ein Portfolio gut diversifizieren können.

Andrew Milligan ist Head of Global Strategy bei Aberdeen Standard Investments (ASI) in Edinburgh und entwickelt die Hausmeinung zu den Kapitalmärkten. Der Brite ist seit 32 Jahren in der Finanzbranche tätig und gehört dem Orden des British Empire (OBE) an.