Das Coronavirus hat weite Teile der Welt in die Rezession gezwungen, und die Arbeitslosigkeit ist hoch. Gleichzeitig herrscht große Unsicherheit mit Blick auf eine mögliche zweite Infektionswelle. Dass Märkte nichts mehr hassen als Unsicherheit, ist hinlänglich bekannt. Und dennoch: Die Kurse klettern, als hätte es Corona nie gegeben. Die US-Technologiebörse Nasdaq beispielsweise erreichte unlängst ein neues Rekordhoch, der deutsche Leitindex DAX verbesserte sich ungeachtet aller volkswirtschaftlichen Malaisen im zweiten Quartal um fast 24 Prozent. Es war das drittbeste Quartal seiner Geschichte. Diese scheinbar gegensätzliche Entwicklung sorgt für Verwirrung.
Dabei gibt es durchaus gute Gründe für die positive Stimmung am Aktienmarkt. Erstens meldet eine beachtliche Zahl von Unternehmen weiter Gewinne und seit Kurzem auch wieder steigende Umsätze. Das gilt nicht nur, aber auch für die großen US-Technologiekonzerne, denen die Krise offenbar kaum etwas anhaben kann. Zweitens unternehmen zudem die Notenbanken und Regierungen rund um den Globus sehr viel, um den Geldkreislauf zu stärken. Die umfangreichen Stimulusprogramme sollen die Nachfrage ankurbeln und damit die Wirtschaft weltweit unterstützen. Das nährt den Optimismus zusätzlich. Allein die US-Regierung hat gut zwei Billionen US-Dollar zur Verfügung gestellt, um der Wirtschaft auf die Beine zu helfen. Mit dem Geld wird der Nachfrageausfall von Verbrauchern und Unternehmen zumindest teilweise kompensiert.
Vor allem aber fragen sich die Investoren: Wohin mit meinem Geld? Anleihen werfen schon seit einiger Zeit kaum noch auskömmliche Erträge ab. Spätestens mit ihren Reaktionen auf die Corona-Pandemie haben die Notenbanken deutlich gemacht, dass mit steigenden Zinsen auf lange Zeit nicht zu rechnen sein wird. Investoren mit Anlagenotstand werden also förmlich in die Aktienmärkte gezwungen. Das sorgt für steigende Kurse, aber auch für vergleichsweise hohe Bewertungen.
Das durchschnittliche Kurs-Gewinn-Verhältnis im US-Leitindex S & P 500 ist auf dem höchsten Stand seit 2002. Sind Aktien damit zu teuer? Nicht unbedingt. Die aktuellen Bewertungen muss man vor dem Hintergrund des quasi zinslosen Umfelds genauer hinterfragen. Ja, die Bewertungen sind höher als im historischen Schnitt. Aber der Durchschnitt über einen langen Zeitraum enthält eben auch Phasen, in denen es für Anleger noch echte Alternativen gab.
Gut möglich, dass wir sehr lange darauf warten müssen, bis die Bewertungen wieder historisch betrachtet günstig sind. Wahrscheinlicher erscheint vielmehr, dass wir uns ganz grundsätzlich daran gewöhnen müssen, dass Aktien von qualitativ hochwertigen Unternehmen in Phasen ohne Zinsen etwas teurer sind. Denn wer sich die steigenden Indizes genauer anschaut, der wird feststellen: Es sind keinesfalls alle Aktien, die sprichwörtlich durch die Decke gehen. Wir befinden uns in einer Zeit des Wandels, nicht nur, aber auch bedingt durch die Corona-Pandemie. Es herrschen große Diskrepanzen in der Performance der unterschiedlichen Branchen und Unternehmen. Während große IT-Werte wie Microsoft oder Alphabet unaufhörlich steigen, bleiben viele Aktien aus der klassischen Old Economy, etwa aus dem Energiesektor, weit hinter der Performance der Indizes zurück.
Deshalb ist es derzeit immens wichtig, die Unternehmen genau anzusehen und der fundamentalen Wertpapieranalyse ihren Raum zu geben. Wie fit ist das Geschäftsmodell für die Herausforderungen der Zukunft? Welche Strategie wird langfristig verfolgt? Wie gut ist das Management besetzt, wie stark ist die Bilanz? Unternehmen, die auf diese Fragen zufriedenstellende Antworten geben können, werden den Anlegern weiter Gewinne bescheren - unabhängig vom volkswirtschaftlichen Datenkranz.
Über Benjardin Gärtner
Der gelernte Bank- und Diplomkaufmann war zuvor bei der Deutschen Bank als Co-Head des deutschen Aktienteams tätig. Weitere Stationen verbrachte Gärtner bei der Allianz sowie bei Goldman Sachs. Union Investment ist die Fondsgesellschaft der Volks- und Raiffeisenbanken und mit rund 350 Milliarden Euro verwaltetem Vermögen einer der größten deutschen Vermögensverwalter.