Jede Branche hat eine ‚Königsfamilie", notierte das britische Society-Magazin "Tatler" vor einem Jahr. "Die Medien haben die Murdochs, die Finanzen die Rothschilds und der digitale Kunstmarkt die Neuendorfs." Der Patriarch, Hans Neuendorf, mischt im Hintergrund weiter mit, die Führung der Artnet AG haben seine Kinder übernommen. CEO ist seit 2012 sein erster Sohn Jacob Pabst, als Vice President wirkt seine Tochter Sophie. Investor Relations gehört zu ihrem Verantwortungsbereich.
Zum Interview hat sie nach Madrid gebeten, wo sie seit ihrer Verlobung mit einem spanischen Grafen lebt. Der gibt dem Reporter zunächst eine Privatführung durch die atemberaubende Kunstsammlung des Palacio de Liria, Residenz der Herzöge von Alba. Hier entsteht auch unser Bild. Für das Interview geht es in einen Club im Nobelviertel Salamanca. Umher sind die Mitglieder bereits in Feierabendstimmung. Sophie Neuendorf aber konzentriert sich auf das Gespräch mit €uro am Sonntag.
€uro am Sonntag: Die Wirtschaft leidet unter dem russischen Überfall auf die Ukraine. Der Kunstmarkt auch?
Sophie Neuendorf: Laut unseren Daten zählt Russland ja nicht zu den wichtigsten Kunstmärkten (das sind, in dieser Reihenfolge, USA, China, England und Frankreich). Und obwohl viele russische Sammler nun von Sanktionen betroffen sind, berührt dies unser Segment kaum. Allerdings sind Markteilnehmer, die wie das Auktionshaus Phillips in russischer Hand sind, jetzt natürlich in Schwierigkeiten. Aber: Dass die Weltkonjunktur unter dem Krieg leidet, könnte sich auf den Kunstmarkt auswirken. Möglicherweise mittelfristig sogar positiv, weil Kunst als relativ sichere Anlage gilt.
Dann läuft es bei Ihnen?
Operativ berührt dieser Krieg, so schrecklich er ist, unser Geschäft nicht. Aber natürlich spürt Artnet, wie viele andere Firmen auch, die Auswirkung am Aktienmarkt.
Und die Folgen von Corona?
Waren zunächst massiv. Ich war mir anfangs nicht sicher, ob wir als Firma überleben würden. Aber dann sind die Marktteilnehmer - Sammler, Galeristen, Auktionshäuser - überraschend schnell zu online gewechselt.
Ein erfreulicher Sondereffekt für Artnet, oder?
Unser Geschäft baut ja auf dem Prinzip des digitalen, transparenten Handels auf. Und um es zynisch überspitzt auszudrücken, waren wir deshalb ideal positioniert, um aus dieser Situation Kapital zu schlagen. Dank unserer digitalen Strategie haben wir 2020 und 2021 gute Jahre gehabt.
Wenn es so gut gelaufen ist in den letzten beiden Jahren: Warum steht die Artnet-Aktie, nach einem Allzeithoch Ende 2021, augenblicklich so schlecht da?
Angesichts unserer Performance war unser Wert tatsächlich kontinuierlich gestiegen. Operativ sind wir weiter erfolgreich, wie man an unserem Jahresabschluss 2021, den wir im April veröffentlichen, sehen wird. Aber wir erleben eben eine Wirtschaftskrise. Da ist unsere Aktie im Vergleich mit anderen Werten gar nicht so stark gefallen. Es ist noch okay.
Das Hauptgeschäftsfeld von Artnet ist Ihre Price Data Base Fine Art and Design, die Verkaufspreise und Auktionserlöse zurück bis 1989 listet.
Ja, und noch immer gibt es nichts Vergleichbares, nichts, das so viele Ergebnisse so akkurat verzeichnet. Wir reden von 15 Millionen Auktions- und Verkaufsergebnissen, die wir alle gecheckt und auf Richtigkeit überprüft haben. Wir ergänzen diese Daten durch Kooperationen mit Unternehmen wie Artfacts, die die Ausstellungsaktivitäten von Künstlern archiviert und analysiert, und systematisieren sie mit Wissenschaftlern der Berliner Humboldt-Universität, mit der wir kürzlich eine Kooperation eingegangen sind. Unser Data-Science-Team kann aus diesen Datensätzen Indizes generieren, die die Wertentwicklung einzelner Künstler wie Gerhard Richter mit anderen Indizes wie dem S & P 500, Gold oder Öl vergleichen.
Sie haben sogar angekündigt, "basierend auf Marktdaten, Wissenschaft und künstlicher Intelligenz" eine sogenannte "prädikative Technologie" anzubieten. Heißt das, Sie wollen voraussagen, was etwa eine Papierarbeit von Rembrandt bei der nächsten Auktion bringen oder eine Leinwand von Lucien Freud 2027 wert sein wird?
Wert sein könnte, ja. Wir sind mit den Algorithmen fast so weit, dass wir tatsächlich anfangen können, dieses Produkt zu bauen.
Mal abgesehen von Bluechip-Künstlern, deren Werke sich nur Menschen mit extrem großen Vermögen leisten können - das aussichtsreichste und gleichzeitig undurchsichtigste Feld für Investoren mit begrenzteren Mitteln sind Nachwuchskünstler in der Preisklasse bis 100.000 Dollar. Nun soll KI und eine von Ihrem Kooperationspartner Artfacts entwickelte App namens Limna die Chancen berechnen. Echt?
Selbstverständlich kommt es, gerade bei sogenannten emerging artists, maßgeblich auf die Qualität der Recherche an. Die Datensätze, die wir etwa von unserem Partner Artfacts bekommen, verraten unter anderem, wie oft ein Künstler in den sozialen Medien erwähnt wird. Auf welchen Ausstellungen wurde er schon gezeigt, auf welchen Messen ist er vertreten, wurde er bereits von Museen angekauft? Das sind Kriterien, aus denen sich durchaus eine Wertentwicklung ableiten lässt.
Welche Klientel nutzt solche Daten?
Dafür interessieren sich Kunstberater, Versicherungen, Wirtschaftsprüfer - und spekulative Sammler.
Wie viel Anteil hat dies am Gesamtergebnis der Artnet AG?
Um die 20 Prozent, in etwa genauso hoch wie jedes andere unserer Geschäftsfelder: das Galeriennetzwerk, Advertising und Subscriptions. An erster Stelle steht unser Marktplatz, die Auktionen.
Apropos: Welche Vorteile haben denn Onlineauktionen?
Es ist komfortabler und schneller, vom Wohnzimmer aus an einer Auktion teilzunehmen, zum anderen ist es günstiger. Die Käuferprämie ist sehr viel niedriger als bei einer traditionellen Versteigerung, maximal 20 Prozent.
Die Anlegerplattform von Comdirect nennt Artnet den "führenden Anbieter von Online-Kunstauktionen, Kunstmarktdaten und -nachrichten". Gibt es Konkurrenten?
Niemand, der diese Synergien im Portfolio hat. Innerhalb der Segmente? Eine Preisdatenbank bietet auch Artprice an; unter den Veranstaltern von Onlineauktionen sind wir nach Sotheby’s, Christie’s und Phillips die Nummer 4.
Dort nimmt der Handel mit den sogenannten NFTs zu. Wird das so bleiben?
Ja, sofern man darauf achtet, dass die Regularien der Kryptobörsen eingehalten werden. Denn ungünstige Transaktionen, Geldwäsche etwa, könnten die Marktteilnehmer abschrecken und die Entwicklung negativ beeinflussen. Es kommt also darauf an, dass Vertrauen in die Geschäfte mit NFTs aufgebaut wird. Artnet lässt deshalb Käufer und Verkäufer überprüfen.
Wie ist Ihre Haltung zu dieser neuen Kategorie? Ist das noch Kunst?
Noch wird sie zu sehr mit Kryptowährung und Spekulation in Zusammenhang gebracht. Wer ihr aber mit Ernsthaftigkeit begegnet, wird ihren künstlerischen Anspruch erkennen.
Wirklich?
Ich kann nachvollziehen, dass Teile des Publikums sich schwertun mit diesem Segment, übrigens ähnlich wie anfangs mit Videokunst oder Performance Art. NFTs sind eben nicht so greifbar wie eine Leinwand oder Skulptur. Dabei sind die Unterschiede zu traditioneller Bildender Kunst gar nicht so groß. Künstler brauchen die Akzeptanz eines Händlers und von Sammlern, müssen bei Auktionen umworben werden. Wer stark nachgefragt wird, erzielt bessere Preise. In den traditionellen Bereichen der Kunst wie bei NFTs.
Halten Sie es für möglich, dass NFTs wertbeständig und im Kanon akzeptiert werden wie, sagen wir: Bilder von Roy Lichtenstein oder Rembrandt?
Der Vergleich mit Künstlern diesen Ranges fällt mir offengestanden noch schwer. Ausschließen möchte ich es nicht. Vor allem glaube ich nicht, dass es sich nur um einen Hype handelt. Weil ich sehe, dass es eine ernsthafte Gruppe von Sammlern gibt.
Der Kunstmarkt denkt auch über die Tokenisierung wertvoller Kunstwerke nach: Eine Gruppe von Investoren erwirbt Anteile an Werken, die sie allein nicht finanzieren könnten, um von deren Wertsteigerung zu profitieren. Halten Sie das für sinnvoll?
Natürlich habe ich lieber ein Bild an der Wand, das ich ganz besitze, als nur ein Stück davon. Aber ein Token von einem Kunstwerk zu erwerben - ähnlich wie die Aktie eines Unternehmens - finde ich nicht abwegig.
Wie belastend ist es eigentlich, mit Rüdiger Weng von Weng Fine Art einen zweitgrößten Investor im Boot zu haben, der kaum verhohlen die Kontrolle über die Artnet AG anstrebt?
Auf diese Frage muss ich mehrere Antworten geben. Erstens: Wir sind ein Familienunternehmen mit Investoren und legen sehr großen Wert darauf, in regem Austausch mit ihnen zu bleiben. Zweitens: Wir respektieren die Meinung von Herrn Weng als Aktionär und bleiben gesprächsbereit. Natürlich weiß ich, dass er oft angestrebt hat, die Artnet AG und sein Unternehmen Weng Fine Art zusammenzuführen. Darin sehen wir jedoch keinen Mehrwert. Den hätte wohl eher Herr Weng mit seinem bislang eher regional deutschen Geschäft. Wir sind auch nicht so aufgestellt, dass wir noch einen Partner bräuchten. Und zum dritten: Der spürbare Missmut rührt noch daher, dass Herr Weng 2012 zusammen mit russischen Kapitalgebern, die kurz darauf Zeit im Knast verbracht haben, eine feindliche Übernahme versucht hat.
Konkret gefragt: eine Fusion mit der Weng Fine Art …
… wird nie infrage kommen.
Die Artnet AG wird sich jetzt einer freiwilligen Sonderprüfung unterziehen. Wie wird das Ergebnis ausfallen?
Man wird keine Auffälligkeit finden. Es stimmt: Die Gründerfamilie hat "skin in the game". Wir sind alle passioniert dabei. Aber wir verschaffen uns keine Vorteile, sondern legen Wert darauf, dass alle Anleger Geld verdienen. Ich verstehe, dass die Aktionäre Klarheit haben möchten. Da wir für Transparenz bürgen, haben wir dieser Prüfung natürlich zugestimmt. Und Mitte Mai werden wir mehr wissen.
Ist Artnet also ein Familienunternehmen mit Beteiligung von Aktionären, oder ein börsengelistetes Unternehmen, an dem Ihre Familie die Mehrheit der Anteile hält?
Ersteres. Wir waren zuerst ein Familienunternehmen und sind dann an die Börse gegangen. Als Familienunternehmen schauen wir auf Langfristigkeit, auf den anhaltenden Bestand der Firma, und denken nicht an den schnellen Gewinn. Vielleicht irritiert es einige Aktionäre, dass wir bisher noch keine Dividende ausgeschüttet haben. Aber alles, was wir verdienen, wird sofort in die Produktentwicklung investiert. So konnten wir unsere Onlineauktionen auf die Beine stellen oder unser Data-Science-Team instandhalten. Alle Weiterentwicklungen finanzieren wir nicht mit geliehenem, sondern vorher verdientem Geld.
NFTs:
Zahlenwerk
Der Kunstmarkt hat einen neuen Hype: Non-Fungible Tokens (NFTs). Das sind digitale Werteinheiten, die in einer Blockchain verzeichnet und dann, im Gegensatz etwa zu digitalem Geld, nicht mehr geteilt oder ausgetauscht werden können. Solche digital verbrieften Unikate werden gern als "Kunstwerke" gestaltet, oft in endlosen Variationen von Comic-Köpfen. Jeweils mit einem Code ausgestattet, sind solche "Originale" Sammlern den Gegenwert von bis zu siebenstelligen Dollarbeträgen wert.
Vita:
Die Internationale
Die Tochter des Artnet-Gründers Hans Neuendorf wächst in Frankfurt, Berlin und New York auf und studiert International Business in London. Bei Artnet führt sie gleich bei den ersten Onlineauktionen die ESG-Richtlinien ein und ist heute als Vice President für die Investor Relations zuständig. Zuletzt kuratierte sie NFT-Kunst für den Pavillon von Kamerun auf der Biennale di Venezia. Sie ist 35 und lebt in Madrid.
Unternehmen:
Der Informant
Von dem Kunsthändler Hans Neuendorf 1989 gegründet und seit 1996 im Internet, betreibt Artnet Onlineauktionen, ein Netzwerk führender internationaler Galerien, eine Price Data Base und einen rund um die Uhr arbeitenden Kunstnachrichtendienst. Die Artnet AG ist seit 1999 an der Frankfurter Börse notiert, zunächst im Neuen Markt, seit 2007 im Prime Standard, WKN: A1K 037. Die Familie hält 28 Prozent der Aktien.