Seichte Entwarnung an Deutschlands wichtigster Wasserstraße: Die rekordverdächtig niedrigen Pegelstände am Rhein sollen in den nächsten Tagen wegen neuer Niederschläge wieder ansteigen. Ob das von Dauer sein wird, ist allerdings unklar, die Gefahrenlage ist keineswegs gebannt. Am Mittwochmorgen war der Pegelstand in Emmerich am Niederrhein auf das Rekordtief von minus zwei Zentimetern gefallen. Die Schifffahrt war nur noch eingeschränkt möglich. Das Niedrigwasser beeinträchtigt unter anderem die Leistung von Kohlekraftwerken. Auch Stahlerzeuger wie Thyssenkrupp oder Chemiekonzerne wie BASF (siehe auch S. 14), die einen Großteil ihrer Rohstoffe über den Rhein beziehen, fürchten um ihre Lieferketten.
Die ohnehin angespannte wirtschaftliche Lage in Deutschland verschärft sich damit, weil Binnenschiffe nur noch mit minimaler Auslastung fahren können. Industrieverbände wie der BDI warnen vor gravierenden Folgen. "Anhaltende Trockenheit und das Niedrigwasser bedrohen die Versorgungssicherheit der Industrie", sagte BDI-Vize-Hauptgeschäftsführer Holger Lösch. "Es ist nur eine Frage der Zeit, bis Anlagen in der Chemie- oder der Stahlindustrie abgeschaltet werden oder Mineralöl und Baustoffe ihr Ziel nicht erreichen." Der BDI warnt vor Lieferengpässen, gedrosselter Produktion und Kurzarbeit sowie einer Verschärfung des Energie-Notstands.
Die Engpässe schüren zudem die Sorgen vor einem Abgleiten der deutschen Wirtschaft in die Rezession. Der ZEW-Index, ein Barometer für die Einschätzung der konjunkturellen Entwicklung in den kommenden sechs Monaten, fiel im August um 1,5 auf minus 55,3 Punkte und damit überraschend stark. Ökonomen hatten einen leichten Anstieg erwartet.
Minuswachstum auch 2023
Der Ukraine-Krieg, die hohe Inflation und weiter zu erwartende Leitzinsanstiege dämpfen die konjunkturelle Entwicklung weiter ab. Die ab Oktober geplante Gasumlage für alle Verbraucher von 2,419 Cent pro Kilowattstunde schmälert die Kaufkraft der Haushalte zusätzlich, sodass vom privaten Konsum anders als im ersten Halbjahr kaum noch Impulse für die Wirtschaft ausgehen dürften.
Die meisten Ökonomen rechnen nun bereits im dritten Quartal mit einem Rückgang der Wirtschaftsleistung, der sich im vierten Quartal fortsetzen dürfte. Damit befände sich die deutsche Wirtschaft auch nach formaler Definition in einer Rezession. Die Volkswirte von Dekabank, Commerzbank und Deutscher Bank erwarten inzwischen sogar, dass die Wirtschaft auch im Gesamtjahr 2023 um bis zu minus ein Prozent schrumpft. Nach einem Plus von 0,8 Prozent im ersten Quartal 2022 stagnierte das Bruttoinlandsprodukt im zweiten Quartal. Nach Berechnungen des Vermögensverwalters Bantleon droht den deutschen Haushalten 2023 allein durch die höheren Energiepreise ein Kaufkraftentzug von 70 Milliarden Euro. Das sind etwa vier Prozent der gesamten Konsumausgaben, und das zusätzlich zu den 70 Milliarden Euro Schwund, die bereits im laufenden Jahr anstehen, heißt es bei Bantleon.
Parallel zur der sich eintrübenden Konjunktur meldete das Statistische Bundesamt einen Rekord-Auftragsbestand der Industrie. Im Vergleich zum Vormonat hätten die Bestellungen um 0,5 Prozent zugenommen, zum Vorjahr um 14 Prozent. Der Auftragsbestand im verarbeitenden Gewerbe liegt auf einem Höchststand seit Beginn der Erfassung im Jahr 2015. Wegen gestörter Lieferketten gibt es bei vielen Firmen aber Probleme beim Abarbeiten der Aufträge. "Der hohe Auftragsbestand bedeutet, dass die Industrie gut durch die kommende Rezession kommen könnte", sagte der Chefvolkswirt der Berenberg Bank, Holger Schmieding. Allerdings müsse auch die mögliche Stornierung von Aufträgen berücksichtigt werden. Lösten sich in den kommenden Monaten die Lieferprobleme auf, sei mit einer Belebung der Produktion zu rechnen.