Seit Jahresbeginn hat sich der DAX schlechter entwickelt, als es die meisten Volkswirte, Analysten und Strategen erwartet haben. Viele Anleger fragen sich daher, ob es weiterhin sinnvoll ist, auf deutsche Aktien zu setzen, oder ob die Luft raus ist. Schließlich darf man nicht vergessen, dass sich der DAX in den vergangenen drei Jahren dank guter Kursgewinne und hoher Dividendenzahlungen fast verdoppelt hat. Da die Unternehmensgewinne in dieser Zeit nicht mit den Kursen Schritt halten konnten, sind Aktien kontinuierlich teurer geworden, wie das Kurs- Gewinn-Verhältnis (KGV) zeigt.
Sind Aktien also mittlerweile schon zu teuer? Der DAX weist heute ein KGV von knapp 13 auf. Verglichen mit dem Durchschnittswert der vergangenen zehn Jahre von 11,5 ist das eine verhältnismäßig hohe Bewertung. Allerdings relativiert sich diese Einschätzung, wenn man den Beobachtungszeitraum verändert. Vor 15 Jahren waren Anleger bereit, das 20-Fache eines Jahresgewinns für den DAX zu bezahlen, und auch das durchschnittliche KGV seit Ende der 80er-Jahre beträgt gut 15. Was also ist ein "faires" KGV? Das lässt sich leider nicht so einfach bestimmen. Das Problem ist, dass es nicht nur eine Vielzahl von Einflussfaktoren für das KGV gibt, sondern auch, dass sich diese ändern können.
So war etwa in den 80er- und 90er-Jahren ein vergleichsweise enger Zusammenhang zwischen der Rendite für zehnjährige USStaatsanleihen und dem KGV des S & P 500 zu beobachten. Bis heute ist nicht ganz klar, warum sich dieser Zusammenhang ab 2002 auflöste und sich danach sogar ins Gegenteil verkehrte. Vielleicht haben das Platzen der Technologieblase im Jahr 2000, die Finanz- und Wirtschaftskrise der Jahre 2008/2009 sowie die anschließende Staatsschuldenkrise zu einem veränderten Anlegerverhalten geführt. Anlagen in bestimmte Staatsanleihen wurden zu einem "sicheren Hafen", sodass deren Renditen stärker sanken, als es eigentlich aufgrund der ökonomischen Rahmenbedingungen zu erwarten gewesen wäre. Eine positive Korrelation von Renditen und KGVs war somit wohl in erster Linie auf die geringere Risikoneigung der Anleger zurückzuführen.
Dieses Verhalten trifft auch auf deutsche Anleger zu. Nur gut fünf Prozent des gesamten Geldvermögens werden in Aktien investiert. Angesichts der anhaltenden Niedrigzinsphase werden Anleger künftig aber an einer etwas höheren Aktienquote nicht vorbeikommen, wenn sie ihr Kapital real erhalten wollen. Allerdings werden nicht wenige Anleger von Höhenangst geplagt, denn mit über 9000 Punkten liegt der DAX heute auf einem Niveau, das ihm noch vor einiger Zeit nur wenige zugetraut haben. Wer aber nicht bei 6000, 7000 oder 8000 Punkten investiert hat, der tut sich auf dem heutigen Niveau noch schwerer mit einem Engagement. Schließlich hat man möglicherweise schon den Großteil des Aufschwungs verpasst, und für ein paar Prozentpunkte "Restperformance" das Anlagerisiko zu erhöhen, dazu fehlt vielen der Mut.
Bei einer Anlageentscheidung sollte aber allein der Blick nach vorn ausschlaggebend sein. Und vieles spricht dafür, dass die Weltwirtschaft im laufenden Jahr Tritt fasst und der Aufschwung an Dynamik gewinnen wird. Dank des sich abzeichnenden konjunkturellen Aufschwungs in der europäischen Peripherie haben diese Länder mehr Zeit, Wirtschaftsreformen zu implementieren. Insgesamt spricht aus unserer Sicht viel dafür, dass die Risikoaversion eher weiter zurückgeht und damit Spielraum für höhere KGVs eröffnet. Würde sich der DAX der langfristigen Durchschnittsbewertung von 15 wieder annähern, könnte er sogar auf rund 12 000 Punkte ansteigen - sofern sich die Gewinnerwartungen für die nächsten beiden Jahre als realistisch erweisen. Und selbst bei einem unveränderten KGV stehen die Chancen gut, dass in den nächsten Wochen die 10 000-Punkte-Marke erreicht und auch überwunden werden kann. Es sollte somit noch nicht zu spät sein, in deutsche Aktien zu investieren.
Carsten Klude
Seit 2000 ist Klude Chefvolkswirt von M. M. Warburg & Co. Nach seiner Ausbildung zum Bankkaufmann bei der Deutschen Bank in Bremen studierte er Volkswirtschaft mit Schwerpunkt Ökonometrie in Kiel. 1996 kam er zu der Hamburger Privatbank, für die er zunächst die europäischen Kapitalmärkte analysierte. Seit Sommer 2013 verantwortet Klude auch das Portfoliomanagement der Bank.