Nehmen wir Gilead Sciences. Das kalifornische Pharmaunternehmen, weltweit führend bei HIV-Wirkstoffen und der Therapie von Hepatitis C (HCV), wird an der Börse aktuell mit rund 80 Milliarden Euro bewertet. Da die Firma über mehr als 30 Milliarden an liquiden Mitteln verfügt, kostet sie unterm Strich nur noch knapp 50 Milliarden. Das innovative Unternehmen, das praktisch im Alleingang die Behandlung von HIV- und HCV-Patienten revolutionierte, wurde ironischerweise "ein Opfer seines eigenen Erfolgs", meint Jörg Blumentrath, Portfoliomanager bei der Investmentboutique Medical Strategy. Neue HCV-Medikamente wie Harvoni und Sovaldi wirken derart gut, dass fast alle Patienten von dieser zuvor oft tödlich verlaufenden Viruserkrankung geheilt werden können.
Für die Erfinder allerdings, auch wenn es zynisch klingt, ist das suboptimal. Das Pharmageschäft ist aus Sicht eines Unternehmens dann besonders interessant, wenn Patienten dauerhaft behandelt werden können. Zwar verdient Gilead weiterhin Milliarden, aber der Börse ist das nicht genug. "Der Cashflow ist absolut gesehen zwar hoch", sagt Blumentrath, "aber das Momentum ist negativ", zum einen weil inzwischen weitere Pharmaunternehmen wirkungsvolle HCV-Medikamente eingeführt haben und ein Verdrängungswettbewerb stattfindet, zum anderen weil geheilte Patienten logischerweise nicht wiederkommen. Damit ist der Zauber, der die Gilead-Aktie einst umgab, verflogen. Die südlich von San Francisco beheimatete Firma muss sich neu erfinden, besser heute als morgen, und sie hat nicht nur ein Motiv, sondern auch die Mittel. "Jeder fragt sich, was Gilead mit seinem Cash macht", sagt Christian Lach, Senior Portfoliomanager des BB Adamant Biotech Fonds.
Einerseits könnte der Konzern auf Einkaufstour im Biotech- oder Pharmasegment gehen und einen der innovativen Rivalen übernehmen. Zugleich aber ist das 1987 gegründete und seit 2003 durchgehend profitable Unternehmen aufgrund der niedrigen Bewertung und seiner Finanzstärke aber auch selbst ein verlockendes Übernahmeziel. Jäger oder Gejagter. Das ist hier die Frage.
Diese strategische Ambivalenz ist zurzeit typisch für mehrere große Pharmakonzerne, die in absehbarer Zeit ihre Rolle als Bieter oder Beute finden müssen (siehe Tabelle Seite 3). In diese Gruppe zählen nach unserer Einschätzung bekannte Börsentitel wie Amgen, AstraZeneca, Bristol-Myers Squibb (BMS), Eli Lilly und der amerikanische Merck-Konzern - nicht zu verwechseln mit der deutschen Merck KGaA. Diese Dickschiffe der global agierenden Pharmabranche könnten entweder in großem Stil zukaufen oder selbst zu einem Übernahmeziel werden. Eine Neuordnung der Branche steht in den kommen Jahren an: die nächste große Konsolidierungswelle.
Das ist zugegebenermaßen eine spekulative These, was indes in der Natur der Sache liegt. An der Börse wird bekanntlich nicht geklingelt, auch und erst recht nicht vor Übernahmeangeboten im hohen zwei- oder gar dreistelligen Milliardenbereich. Mehrere Faktoren kommen zusammen, die als Katalysator für ein neues Pharma-Fusionsfieber ausreichen könnten. Ähnlich wie Gilead sitzen zahlreiche Konzerne auf üppigen Barbeständen. Viele verdienen dank hoher Margen blendend. Die Zinsen sind noch immer niedrig, sodass frisches Kapital relativ mühelos aufzutreiben ist. Die Marktbewertungen im Pharmasektor sind zwar nicht spottbillig, aber auch nicht mondpreisig. Und praktisch alle Unternehmen der Branche müssen Nachschub für ihre Produktpipelines finden, weil früher oder später Patentabläufe zu Umsatz- und Gewinnausfällen führen.
Aktionären im Gesundheitssektor bietet das beträchtliche Chancen - insbesondere natürlich für den Fall, dass ein Unternehmen mit Aufschlag auf den Börsenkurs zum Übernahmeziel wird. Als Jagdrevier dürften vor allem Gesellschaften mit einer Marktkapitalisierung etwa in der Spanne zwischen 50 und 100 Milliarden Euro infrage kommen. Potenzielle Übernahmeziele haben im Idealfall entweder zukunftsfähige Innovationen im Produktportfolio oder sie generieren wie Amgen, Biogen oder Gilead hohe Cashflows. Oder gar - der optimale Fall - beides. Zudem müssen sie übernahmefähig sein, also eine zugängliche Aktionärsstruktur haben, was in der Regel heißt: einen hohen Streubesitz. Auf der Käuferseite wiederum dürften eher die Riesen der Branche stehen - Johnson & Johnson etwa, nicht nur ein weltbekannter Konsumgüterriese, sondern auch das siebtgrößte Pharmaunternehmen der Welt. Enormes Marktgewicht weisen darüber hinaus Novartis, Pfizer, Roche und Merck auf.
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Innovation durch Forschung
Ein Leitmotiv der Branchenneuordnung dürften dabei neuartige Krebsmittel sein, das seit einigen Jahren spannendste Forschungsgebiet. Hier hat sich bereits ein Innovationssprung ereignet, dessen Folgen in der Praxis mit der Einführung von Penicillin in den 1940er-Jahren vergleichbar sind. Insbesondere neuartige Immuntherapien, die das Immunsystem des Körpers zur Tumorbekämpfung in Eigenregie inspirieren, revolutionieren die Behandlungsstandards. So ist das maligne Melanom, ein besonders schnell Metastasen bildender und tückischer Hautkrebs, dank dieses Ansatzes zwar noch nicht durch die Bank heilbar, aber oft wenigstens behandelbar. Auf dem Jahrestreffen der American Society of Clinical Oncology (ASCO) in Chicago im Juni, dem weltweit wichtigsten Krebskongress, "wurde mehrfach gesagt: ‚Wir sind in einem neuen Zeitalter‘", berichtet Lach. "Das Ziel bei Krebs ist heute: möglichst eine Heilung, möglichst wenig Nebenwirkungen. Noch vor wenigen Jahren war dies undenkbar."
Vier Big-Pharma-Unternehmen liegen auf diesem Gebiet zurzeit in Führung: AstraZeneca (mit Durvalumab), BMS (mit Opdivo, Yervoy), Merck (Keytruda) und Roche (Tecentriq). Pfizer hat im Forschungsverbund mit der deutschen Merck zuletzt mit dem Mittel Avelumab zu dieser Spitzengruppe aufgeschlossen.
Pipeline entscheidend
Vor allem BMS wird in der Branche als Übernahmekandidat gehandelt. Noch vor drei Jahren galt das New Yorker Unternehmen dank seiner bereits zugelassenen Immuntherapeutika als Branchenprimus. Diese Führungsposition sei im aktuellen Umfeld jedoch infrage gestellt, meint Oliver Kubli, Head Portfolio Management Fonds & Mandate bei Bellevue, vor allem nach zuletzt enttäuschenden Studienergebnissen bei Lungenkrebs. Seit Sommer 2016 brach der Aktienkurs in der Spitze um gut ein Viertel ein. Doch "für ein Unternehmen, das ins Onkologiegeschäft expandieren will, wäre das ein interessanter Wert", glaubt Blumentrath, "da kauft man sich Expertise ein."
Zudem gehen seit Längerem Gerüchte um, wonach BMS und Gilead - beide ohnehin Kooperationspartner - ein schönes Paar abgeben würden. Aber auch Johnson & Johnson oder Amerikas Merck könnten bei BMS anklopfen. Dass BMS sich vor Kurzem zwei bekannte Hedgefonds-Aktivisten, Carl Icahn und Jana, als Aktionäre eingefangen hat, die die strategischen Geschicke des Unternehmens mitbestimmen wollen, erhöht den Druck.
Selbst der US-Gigant Merck könnte ins Visier der Jäger geraten. Immerhin hatte US-Rivale Pfizer 2015 schon einmal 160 Milliarden Dollar für Allergan geboten, die Dimensionen erfordern also nicht allzu viel Fantasie. Merck verfügt mit Keytruda - zumindest aus heutiger Sicht - über das interessanteste Krebsmittel, das selbst beim bislang schwer behandelbaren Lungenkrebs Wirkung zeigt. Kubli warnt zwar, dass Merck möglicherweise ein "one-trick pony" sei, da der aktuelle Erfolg im Bereich Krebs auf Keytruda basiere und "nicht breit abgestützt" sei. "Keytruda wird für Merck das Rückgrat werden", meint Kubli, "das größte Produkt in der Geschichte des Unternehmens." Langfristig könnte in der Krebsforschung wiederum Roche, schon heute nach Umsatz das führende Onkologieunternehmen der Welt, allen anderen davonziehen. Der Basler Konzern "hat perspektivisch die Nase vorn", sagt Blumentrath.
Anleger tun gut daran, sich auf dynamische Verhältnisse im Börsensegment Big Pharma einzustellen - angetrieben vor allem von spektakulären Innovationssprüngen in der Onkologie. "Auf dem Onkologiegebiet kann sich binnen zwei Jahren vieles ändern", sagt Lach, "das ist alles sehr schnelllebig und zudem wenig planbar. Überraschungen sind die Regel." Insofern macht es momentan Sinn, das Risiko auf mehrere Big-Pharma-Werte zu verteilen. Diese Streuung erhöht dann nicht zuletzt die Chancen, früher oder später von einem appetitlichen Übernahmeangebot zu profitieren.