Herr Dr. Schmieding, Sie arbeiten seit rund 19 Jahren in London. Am Freitag beginnt der Wahlkampf zum Referendum über den Verbleib Großbritanniens in der EU. Zuletzt lagen die Brexit-Befürworter knapp vorn. Ist das ein Fanal für die Abstimmung am 23. Juni?
Nein, ein Fanal ist das nicht. Die Umfrageergebnisse schwanken und werden oft durch die Art der Umfrage verzerrt. Im Durchschnitt der letzten Umfragen gibt es einen knappen Vorsprung für die EU-Befürworter von zwei Prozentpunkten. Der Ausgang ist offen, wir sehen das Brexit-Risiko bei etwa 35 Prozent.
Welche wirtschaftlichen Folgen hätte ein Brexit für die zweitgrößte Volkswirtschaft Europas?
Es wäre ein Schock. Zunächst wäre die Unsicherheit groß. Das allein dämpft das Geschäftsklima und die Investitionen. Ob daraus eine bloße Konjunkturdelle oder eine lange britische Rezession würde, hängt vor allem von einem ab: Können Großbritannien und die EU sich rasch auf eine gütliche Scheidung einigen, oder würde ein langes Hickhack folgen?
Ein Brexit wäre ein Schock.
Die Briten verdienen 15 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung, indem sie Dienstleistungen und Güter in die EU verkaufen. Je mehr Europa diesen Marktzugang nach einem Brexit einschränken und je länger die Unsicherheit darüber anhalten würde, desto größer der Schaden für alle Beteiligten, vor allem aber für das im Vergleich zur EU ja relativ kleine Großbritannien.
Bei den Unternehmen auf der Insel sorgt die hitzige Brexit-Diskussion bereits jetzt für Unruhe. Im ersten Quartal ist der Inlandsumsatz der britischen Industrie auf den tiefsten Stand seit 2012 gefallen. Für den Fall eines Austritts erwarten Volkswirte eine Halbierung des Wirtschaftswachstums in den kommenden Jahren. Ist das nicht etwas übertrieben?
Das ist gut möglich. Zwar soll man einzelne Zahlen nicht überbewerten, da sie oftmals von sich aus schwanken. Aber insgesamt gibt es eine Reihe von Hinweisen darauf, dass das Risiko eines Austritts aus der EU bereits jetzt Konjunktur, Investitionen und Wechselkurs belastet.
Ein beschränkter Zugang zum EU-Finanzmarkt wäre für Großbritannien ein herber und dauerhafter Verlust. Denn London liegt schlicht in der falschen Zeitzone, um stattdessen das Finanzzentrum Asiens zu werden.
Neben produzierenden Unternehmen sehen auch viele Banken die Diskussion um einen möglichen EU-Austritt mit Argusaugen. Die City hat Londons Bürgermeister wegen seiner Anti-EU-Haltung bereits öffentlich getadelt. Was würde ein Sieg der EU-Gegner für den Finanzplatz London bedeuten?
London ist derzeit das Zentrum für viele Dienstleistungen in Europa. Vermutlich würde die EU den Zugang der City of London zum Markt für Finanzdienstleistungen der EU einschränken, wenn Großbritannien nicht mehr EU-Regeln folgt. Für die EU wäre London dann ja "Offshore", also außerhalb des Geltungsbereiches der eigenen Regeln. Und Offshore-Finanzzentren haben heute keinen guten Ruf, um es vorsichtig auszudrücken. Ein beschränkter Zugang zum EU-Finanzmarkt wäre für Großbritannien ein herber und dauerhafter Verlust. Denn London liegt schlicht in der falschen Zeitzone, um stattdessen das Finanzzentrum Asiens zu werden.
Auf Seite 2: Welche wirtschaftlichen Folgen hätte ein möglicher Austritt Großbritanniens für die EU und welche für Deutschland?
Welche wirtschaftlichen Folgen hätte ein möglicher Austritt Großbritanniens für die EU und welche für Deutschland?
Für Deutschland würde der Handel mit seinem zweitwichtigsten Partner außerhalb der Eurozone leiden. Zudem würde innerhalb der EU ein oftmals liberal gesinnter Partner fehlen. Das würde einen Abbau von überflüssigen Regulierungen in Europa nicht gerade erleichtern. Stattdessen könnte der Regulierungseifer mancher politischer Kräfte in Europa noch mehr zu Zuge kommen.
Die EU insgesamt wäre wie üblich etwas weniger von einem derartigen Schock von außen getroffen als das besonders weltoffene und auf den Export konjunktursensibler Güter ausgerichtete Deutschland. Durch eine schnelle gütliche Scheidung ließen sich all die Risiken zum Glück eingrenzen.
Ob die Scheidung rasch und gütlich geregelt werden könnte, ist aber eine sehr offene Frage. In Großbritannien könnten politisch unruhige Zeiten anbrechen; die EU hätte kein Interesse, den Briten weit entgegen zu kommen, um keinen Präzedenzfall zu schaffen, der andere Länder ebenfalls zu einem Scheidungsbegehren ermuntern könnte.
Welche deutschen Konzerne wären von einem Austritt besonders betroffen?
Zu einzelnen Unternehmen kann ich als Volkswirt wenig sagen. Die allgemeine Unsicherheit, die einem Votum für einen Brexit folgen würde, dürfte zunächst einmal die besonders zyklischen Branchen wie Maschinenbau und den Bau von Lastkraftwagen treffen. Dazu kämen bei schwächerer Konjunktur vielleicht auch neue Sorgen um manche Banken. Alles weitere hängt vom Verlauf und Ausgang der Scheidungsverhandlungen ab.
Könnte der Finanzplatz Frankfurt im Falle eines Brexit an die Stelle Londons treten?
Nicht wirklich. Dazu ist Frankfurt wohl nicht attraktiv und groß genug. Der erste richtige Nutznießer wäre vielleicht Edinburgh, wenn Schottland sich beim Brexit von Großbritannien löst, um so in der EU bleiben zu können. Ein Umzug nach Edinburgh sowie Dublin fiele vielen Firmen aus der City of London relativ leicht, wenn sie nach einem Brexit einen Teil ihrer derzeitigen Geschäftsbereich in den Geltungsbereich der EU-Finanzmarktregeln und -aufsicht verlegen müssten. Erst danach kämen vermutlich das kulturell nahe gelegene Amsterdam sowie Frankfurt und Paris.
Viele Investoren fragen sich auch, wie die Börsen einen möglichen Brexit aufnehmen könnten. Was meinen Sie?
Es könnte turbulent werden. Sollten beide Seiten schnell Signale senden, die auf eine gütliche Scheidung hindeuten, könnte sich die Lage schnell halbwegs beruhigen. Sollte es aber nach einer langen Phase der Unsicherheit aussehen, könnte es zu einer allgemeinen Flucht aus dem Risiko kommen mit deutlich negativen Renditen auch für zehnjährige Bundesanleihen. Selbst das kleine Griechenland hat ja gelegentlich die Märkte der Welt in Atem gehalten. Großbritannien wäre ungleich wichtiger.
Der Außenwert des britischen Pfund hat bereits arg unter der Brexit-Diskussion gelitten. Manche Beobachter sehen das Pfund inzwischen auf dem Weg zur Parität zum Euro. Sie auch?
Eigentlich nicht. Beim Brexit könnte sich das britische Pfund durchaus um zehn Prozent oder mehr zum US-Dollar abwerten. Aber die Sorgen um den Zusammenhalt der Rest-EU könnten auch den Euro belasten, der dann ebenfalls zum Dollar abwerten würde, vielleicht um fünf Prozent. Entsprechend geringer wäre der Verlust des Pfundes gegenüber dem Euro.
Es gibt allerdings ein Risiko-Szenario. Den hohen Fehlbetrag in seiner Leistungsbilanz von etwa sechs Prozent seiner Wirtschaftsleistung muss Großbritannien durch Kapitaleinfuhren decken. Es ist also auf das Vertrauen ausländischer Vermögensbesitzer angewiesen. Sollte es bei einem Brexit zu einer erheblichen Kapitalflucht kommen, könnte das Pfund an den Devisenmärkten einbrechen. Wahrscheinlich ist eine solche Sterling-Krise nicht, möglich wäre sie leider schon.
Auf Seite 3: Zahlen dann wir Deutschen die Zeche?
Trotz allerlei Sonderregeln überweist Großbritannien netto umgerechnet rund zehn Milliarden Euro nach Brüssel. Was passiert, wenn London als Netto-Beitragszahler wegfällt: Zahlen dann wir Deutschen die Zeche?
Ach ja, in Deutschland scheint man in den letzten Jahren immer wieder zu befürchten, dass die Deutschen letztlich die Zeche zahlen müssten für alles, was in Europa so passiert. Richtig ist, dass im Falle eines Falles alle Bürger der EU die Zeche zahlen müssten, die Deutschen ebenso wie die Polen, die Finnen ebenso wie die Portugiesen. Die einen müssten bei einem Ausfall der britischen Beiträge mehr einzahlen, die anderen bekämen weniger aus dem Haushalt heraus.
Ein Brexit könnte all den Spinnern am rechten und linken Rand in der EU Auftrieb geben, die im Gemeinsamen Markt statt einer unentbehrlichen Quelle unseres Wohlstandes vor allem eine kapitalistische Verschwörung oder ein sozialistisches Bürokratie-Monster sehen.
Aber es ist gar nicht ausgemacht, dass die Briten nach einem EU-Austritt tatsächlich ihre Beiträge zum EU-Haushalt einstellen könnten. Vermutlich würde die EU verlangen, dass die Briten weiter zahlen, wenn sie den Zugang zu erheblichen Teilen des Gemeinsamen Marktes behalten wollen. Aus diesem Grund tragen ja auch Norwegen und die Schweiz ins EU-Budget bei, obwohl sie der EU gar nicht angehören.
Stärker noch als die möglichen wirtschaftlichen Folgen fürchten viele Beobachter die politischen Schockwellen eines Brexit für die EU. Manche warnen bereits vor dem Ende der Europäischen Union. Steht die EU vor einer Zerreißprobe, der sie nicht mehr gewachsen ist?
Ein Brexit könnte all den Spinnern am rechten und linken Rand in der EU Auftrieb geben, die im Gemeinsamen Markt statt einer unentbehrlichen Quelle unseres Wohlstandes vor allem eine kapitalistische Verschwörung oder ein sozialistisches Bürokratie-Monster sehen. Nach einem Brexit würde auch der Finanzmarkt den wirren Ideen unserer AfD, des französischen Front National oder der Grillini in Italien mehr Aufmerksamkeit zollen. Zweifel am Zusammenhalt der EU könnten eine Art neuer Euro-Krise auslösen. Um das zu vermeiden, würde ich mir wünschen, dass gerade Frankreich und Deutschland nach einem britischen Votum für ein Brexit rasch ein klares politische Signal senden würden, dass sie den Kern Europas mit einer neuen politischen Initiative stärken möchten.
Das Ergebnis könnte etwas mehr variable Geometrie innerhalb der EU sein: verstärkte Integration in einigen Bereichen für all die Länder, die mit Frankreich und Deutschland diesen Schritt gehen möchten, und ein eher lockere Verbund mit all den Ländern, die dabei nicht mitmachen möchten. Letztlich führen Krisen gerade in Europa ja oft dazu, dass Bürger und Politiker sich auf das Wesentliche besinnen. Eine Krise kann immer auch eine Chance sein, Hürden zu überwinden und gemeinsame Interessen neu zu entdecken. Aber hoffen wir, dass die Briten schlau genug sind und gar nicht erst für einen Brexit stimmen.