Einreiseverbote, das Einfrieren von russischem Vermögen im Ausland und ausgesetzte Verhandlungen über Visa-Erleichterungen - die Sanktionen, mit denen der Westen bislang versucht hat, die russischen Machtspiele in der Ukraine zu beenden, sind kaum der Rede wert.

Umso deutlicher waren die Drohungen, die vergangene Woche zu vernehmen waren: "Die Sache ist nicht erledigt", sagte US-Präsident Barack Obama am Dienstag am Rand des Atomgipfels in Den Haag. Sollte Russland weiter in der Ukraine intervenieren, werde der Westen nicht davor zurückschrecken, schärfere Sanktionen zu erlassen - wenn nötig auch solche, die den Energiesektor betreffen.

Während Amerika poltert, sind europäische Politiker auffällig zurückhaltend, wenn es um Wirtschaftssanktionen geht. Russland versorgt halb Europa mit Gas. Vor allem osteuropäische Staaten importieren zum Teil 100 Prozent ihres Bedarfs von dort. Maßnahmen, die einen Lieferstopp der russischen Rohstoffe zur Folge hätten, würden zuerst die Europäer schmerzlich zu spüren bekommen. Egal ob der Boykott hausgemacht wäre oder weil Russlands Präsident Wladimir Putin den Gashahn zudreht. Binnen weniger Tage wären die Vorräte in vielen Ländern aufgebraucht. Alternativen sind - entgegen vieler Behauptungen - kurzfristig kaum verügbar.

Da hilft es nichts, dass Sanktionen die Russen selbst noch viel stärker treffen würden. Das kleinere Übel wäre für sie wohl der Verzicht auf europäische Importe. Das Land führt einen Großteil der dringend benötigten Maschinen aus dem Ausland ein - vor allem aus Deutschland. Nicht ohne Grund fürchtet die hiesige Industrie die drohenden Wirtschaftssanktionen besonders. Mehr als 6000 deutsche Firmen haben rund 20 Milliarden Euro in Russland investiert. Über 300000 Arbeitsplätze hängen hierzulande an den Geschäften.

Viel stärker wiegt jedoch die Abhängigkeit Russlands von seinen Rohstoffen. Öl und Gas machen laut USStatistikbehörde EIA zwei Drittel der russischen Ausfuhren aus. Jeden Tag nimmt das Land 100 Millionen Dollar durch den Verkauf seiner beiden wichtigsten Exportgüter ein. Mehr als ein Drittel tragen sie zum Staatshaushalt bei. Fielen die Einnahmen weg, hätte das Land ein gewaltiges Problem.

Dass Russland das Risiko von Einnahmeverlusten zumindest vorübergehend in Kauf nimmt, hat es 2009 gezeigt. Damals wurden Gaslieferungen kurzerhand eingestellt, weil die Ukraine Rechnungen nicht bezahlt hatte - halb Europa war plötzlich von der Versorgung abgeschnitten, weil ein Großteil des russischen Gases durch Pipelines in der Ukraine geleitet wird.

Auf Seite 2: Abhängigkeit auf beiden Seiten

Abhängigkeit auf beiden Seiten

Entwarnungen, Russland werde wegen seiner eigenen Abhängigkeit schon nicht am Gashahn drehen, hält Eugen Weinberg, Leiter der Rohstoffabteilung der Commerzbank, darum für hanebüchen. Er warnt davor, die Position Europas zu überschätzen. "Viele Politiker versuchen uns glauben zu machen, dass Europa seine Gasimporte aus Russland einfach durch Lieferungen aus anderen Länder substituieren könnte", sagt der Analyst. Dem sei aber nicht so. Etwa ein Drittel der Gasnachfrage deckt die EU durch Importe aus Russland. Das sind rund 150 Milliarden Kubikmeter - über ein Drittel davon geht nach Deutschland. Dass andere Gasproduzenten wie die Niederlande, Großbritannien oder das nördliche Afrika diese Mengen von heute auf morgen zusätzlich anbieten könnten, ist unmöglich - schon allein deswegen, weil die Transportwege für die erforderlichen Mengen bislang nicht ausgelegt sind.

Gleichzeitig sinkt die Gasproduktion in vielen europäischen Ländern. Das Landesamt für Bergbau, Energie und Geologie verzeichnete etwa für Deutschland im vergangenen Jahr einen Rückgang von 11,7 auf 10,7 Milliarden Kubikmeter Rohgas - ein Minus von fast zehn Prozent.

Auch Alternativen wie das oft ins Gespräch gebrachte Flüssiggas, das sogenannte LNG (Liquid Natural Gas), könnten die Lücke kurzfristig nicht füllen. Zwar besitzt Europa genügend LNGTerminals, wo das auf minus 164 Grad heruntergekühlte Gas per Schiff angeliefert werden könnte, doch auch hier ist das Angebot das Problem. Auf Jahre festgezurrte Lieferverträge machen kurzfristige Lieferungen in diesem Ausmaß schwierig.

Hinzu kommt, dass die Gasspeicher nach dem Winter nicht gerade prall gefüllt sind. Das eingelagerte Gas reicht üblicherweise nur ein paar Tage oder wenige Wochen. Deutschlands Speicher etwa, die derzeit zur Hälfte gefüllt sind, hätten Kapazitäten für eine Gasversorgung von 40 Tagen. In vielen europäischen Ländern sieht die Situation deutlich schlechter aus. Nach nur wenigen Tagen wären die Lager leer. Zwar könnte man durch eine Umstellung von Öl und Gas auf Kohle oder gar Atomkraft einen Teil der Energieversorgung sichern, mit gravierenden Störungen im Produktionsablauf der Industrie sowie deutlichen Preissteigerungen in vielen Bereichen wäre aber dennoch zu rechnen.

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Märkte suggerieren Beruhigung

Bislang halten die Märkte diese Szenarien offenbar für relativ unwahrscheinlich. Die Preise für Öl und Gas haben sich in den vergangenen Wochen wenig bewegt. Die Notierungen für Öl schwankten seit Februar dieses Jahres in einer Spannbreite von lediglich knapp fünf Prozent. Erdgas ist nach einem kurzzeitigen Preisanstieg von über 20 Prozent mittlerweile billiger als Anfang Februar, als die Krise sich zuzuspitzen begann. Der Euro zeigt sich stark gegenüber dem Dollar, und auch der unter Druck geratene Rubel hat sich in den vergangenen Tagen erholt. Selbst der runtergeprügelte russische Aktienindex holt wieder auf - allen voran Energieversorger wie Gazprom oder Novatek. Eugen Weinberg staunt über den Optimismus der Anleger. Zwar hält auch er eine weitere Eskalation der Lage für eher unwahrscheinlich. Angesichts der zigtausend russischen Soldaten vor der ostukrainischen Grenze bleibe jedoch ein nicht unerhebliches Restrisiko, meint der Rohstoffexperte.

Die angedrohten Wirtschaftssanktionen oder gar einen Energieboykott vonseiten der EU hält er dennoch für den falschen Weg - auch weil Russland näher an Handelspartner im Osten rücken könnte. China käme als potenzieller Kandidat für russisches Gas infrage. Dass Russland seine Absatzmärkte in diese Richtung erweitert, dürfte nicht im Interesse Europas liegen.

Viele Experten und Politiker, darunter Bundeskanzlerin Angela Merkel, fordern aber ohnehin etwas längst Überälliges: die Diversiizierung der europäischen Gasimporte, insbesondere in Osteuropa. Es ist ohnehin verwunderlich, dass nach den Ereignissen von 2009 nicht damit begonnen wurde, eine gemeinsame Position in Sachen Gasversorgung zu finden. Die Chance, dass es jetzt dazu kommt, ist größer denn je.

US-Präsident Barack Obama forderte kürzlich ebenfalls eine stärkere Abkehr von Russland. Gleichzeitig stellte er Verkäufe von Schiefergas in Aussicht und empfahl Europa, ebenfalls über eine Förderung mittels des umstrittenen Frackings nachzudenken.

Mittelfristig wird Russland jedoch das Rückgrat der Energieversorgung in Europa bleiben. Solange Putin das weiß, kann er pokern - auch wenn er seiner Wirtschaft damit schadet. Das Volk hat er dennoch hinter sich.

"Um das zu verstehen, muss man in die russische Seele blicken", sagt Eugen Weinberg. Der Rohstoffexperte wurde in Russland geboren und ist dort aufgewachsen. "In Russland ist der Nationalstolz tiefer verankert als bei uns in Europa." Wenn es die Situation erfordert, können Russen ungeheuer leidensähig sein: "Auch darum werden Sanktionen kaum helfen, das Land zum Einlenken zu bewegen."

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