Müssen Turnschuhsohlen aus nachwachsenden Rohstoffen hergestellt werden? Beim Essener Spezialchemiekonzern Evonik ist man der Meinung: ja. Nicht, weil das so schön umweltschützend und nachhaltig klingt - obwohl das sicher zu einem gewissen Grad zutreffend ist. Sondern: Weil es sich lohnt.

In einer Pilotanlage in der Slowakei stellt Evonik eine Vorstufe des Kunststoffs Polyamid 12 aus Palmkernöl her. Die Hauptarbeit machen Coli-Bakterien in einem Fermenter. Das spart gegenüber dem konventionellen Prozess, der auf Erdöl basiert, eine erhebliche Anzahl an Produktionsschritten und ist somit ökonomisch sinnvoller. Der Kunststoff, der am Ende herauskommt und zum Beispiel in Sportartikeln, Kabelummantelungen oder in Haushaltsgeräten eingesetzt wird, ist identisch zum petrochemisch hergestellten Produkt.

Vom Automobilsektor bis zur Textilindustrie: Überall gibt es Anstrengungen, auf Erdöl basierende Chemikalien durch solche aus nachwachsenden Rohstoffen zu ersetzen. Durch den Einsatz von Enzymen und Mikroorganismen versuchen Ingenieure außerdem, den Energie- oder Wasserverbrauch von Herstellungsprozessen zu senken.

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Effizienter, billiger, nachhaltiger

Inzwischen gibt es immer mehr Beispiele dafür, dass solche sogenannten biobasierten Verfahren der herkömmlichen Produktion überlegen sein können. Etwa, indem sie Werkstoffe mit neuen Eigenschaften erzeugen. Meistens jedoch sind die biobasierten Prozesse schlichtweg effizienter - und nachhaltiger sowieso.

Holger Zinke, Chef der nicht börsennotierten Biotechfirma Brain, sieht in der Entwicklung Parallelen zum Wandel in der Pharmaindustrie. Dort wird heute rund ein Drittel aller neuen Medikamente biotechnologisch, also in lebenden Zellen, hergestellt. "Biologisches Wissen und Moleküle wie Antikörper haben chemisch synthetisierte Wirkstoffe als Innovationskern und Wachstumstreiber abgelöst und die Industrie transformiert", sagt Zinke. Eine ähnliche Veränderung könnte in den kommenden Jahrzehnten auch die Chemie-Industrie umkrempeln.

Das bietet enorme Wachstumschancen für innovationsstarke Unternehmen. Zudem erhält der Sektor reichlich Rückenwind aus der Politik. So fördert Deutschland beispielsweise mit 2,4 Milliarden Euro die Nationale Forschungsstrategie BioÖkonomie. Die EU setzt bis 2020 mit 3,7 Milliarden Euro auf Public-Private-Partnerships im Bereich biobasierte Industrie, und auch die meisten anderen Industrieländer investieren kräftig in dem Bereich.

Was der Einsatz biobasierter Technologien konkret bewirken kann, müssten eigentlich viele Verbraucher aus eigener Erfahrung wissen: Noch in den 70er-Jahren war fast jede zweite Wäsche im Haushalt eine Kochwäsche. Die Maschinen schluckten über 200 Gramm Waschpulver pro Waschgang. Heute heizen wir das Waschwasser bei weniger als einem Zehntel aller Waschgänge auf 90 Grad. Die Pulvermenge beträgt im Durchschnitt 75 Gramm.

Dass die Wäsche - obwohl die aktuellen Maschinen auch deutlich weniger Wasser verbrauchen - trotzdem in der Regel sauber wird, ist Enzymen zu verdanken. Diese Eiweißmoleküle ermöglichen chemische Reaktionen, zum Beispiel den Abbau von Speiseflecken, bei niedrigen Temperaturen. Rund 80 Prozent aller Waschmittel enthalten heutzutage solche Moleküle.

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Enormes Einsparpotenzial

Längst bewähren sich Enzyme auch im industriellen Einsatz. Bei der Vorbehandlung von zu färbender Baumwolle können sie etwa bis zu 19 000 Liter Wasser und 500 Kilowattstunden Strom pro Tonne Textil einsparen. Der Kohlendioxidausstoß sinkt dadurch um bis zu 120 Kilogramm. Und bei dem Prozess, der Jeans mit einer "Stonewashed"-Optik versieht, belasten Enzyme im Vergleich zu Bimssteinen das Abwasser mit 97 Prozent und die Luft mit 86 Prozent weniger Schadstoffen.

Ähnliche natürliche "Helfer" finden heute in zahlreichen Branchen Verwendung. Sie sorgen zum Beispiel dafür, dass bei der Nahrungsmittelproduktion weniger krebserregendes Acrylamid entsteht. Sie stecken in Reinigungsmitteln und verringern den Einsatz von Chemikalien beim Gerben von Leder. Aus der Produktion von Biokraftstoffen, besonders von solchen aus Holz oder Stroh, sind sie nicht wegzudenken.

Mit 48 Prozent Marktanteil ist der dänische Konzern Novozymes der wichtigste Hersteller von Enzymen weltweit. Das Unternehmen wurde vor 15 Jahren vom Pharmaunternehmen Novo Nordisk abgespalten und gehört mehrheitlich einer Stiftung. Die relativ unbekannte Novozymes gilt aufgrund ihrer großen Innovationskraft, die immer wieder ganze Produktionsbereiche transformiert, als echte Perle. "Wir schätzen beispielsweise, dass in den kommenden Jahren 25 Prozent aller bei Haushaltsreinigern eingesetzten Tenside durch Enzyme von Novozymes ersetzt werden", sagt Jeffrey Zekauskas, Analyst bei der Investmentbank JP Morgan.

Ausgerechnet dieser Sektor bereitet den Dänen allerdings aktuell Probleme. Während Wechselkurseffekte das Ergebnis im ersten Quartal kräftig befeuerten (Umsatzwachstum 18 Prozent, organisch acht Prozent), lässt der starke Dollar die nordamerikanischen Kunden den Wechsel auf höherpreisige Enzym-Mischungen zögerlicher umsetzen als erwartet. Anleger, die ein langfristiges Investment in Novozymes anstreben, sollten diese Schwäche aber zum Einstieg nutzen. Die anderen Sparten Lebensmittel, Bioenergie und insbesondere Landwirtschaft, wo die Dänen 2013 eine Kooperation mit Monsanto geschlossen haben, laufen sehr gut. Novozymes ist mit einer Ebit-Marge von fast 30 Prozent ein hochprofitables Unternehmen.



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Gleichwertiger Ersatz

Neben Enzymen sind die sogenannten Drop-in-Chemikalien die zweite große Domäne der biobasierten Industrie. Sie stammen zwar aus nachwachsenden Rohstoffen, lassen sich jedoch ohne Weiteres neben oder anstatt von Produkten aus Erdöl in bestehende Herstellungsprozesse von Kunststoffen, Beschichtungen, Farben oder Fasern integrieren. Evoniks Polyamid-Pilotanlage fällt in diese Kategorie. Der Spezialchemiekonzern rechnet damit, in seiner Sparte Nutrition & Care 2015 rund 400 Millionen Euro Umsatz mit biotechnologisch hergestellten Produkten zu erzielen. Bis 2020 soll der Betrag auf eine Milliarde Euro steigen.

Bei der MDAX-Firma läuft es zurzeit rund. Eine neue Konzernstruktur und 1,1 Milliarden Euro Investitionen in neue Produktionskapazitäten machen sich bemerkbar. Mehrere Investmentbanken haben zuletzt ihr Kursziel für die Aktie aufgrund der starken Gewinndynamik angehoben. Evonik legt am Mittwoch (nach Redaktionsschluss) die Zahlen zum ersten Quartal vor.

Mittelfristig soll das in Evoniks Pilotanlage genutzte, ökologisch umstrittene Palmöl durch biologische Abfallprodukte ersetzt werden. Denn aus den negativen Erfahrungen mit Biokraftstoffen der ersten Generation, etwa aus Mais, haben die Unternehmen gelernt und konzentrieren sich auf Rohstoffe, die nicht als Nahrungsmittel infrage kommen.

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So stellt die norwegische Borregaard aus Zellstoff, der bei der Holzverarbeitung anfällt, eine extrem vielseitige Produktpalette her. Die Bandbreite reicht von Kunststoffen über Nahrungsmittelzusätze bis hin zu Textilfasern. Diese breite Diversifizierung sorgt für Stabilität im Unternehmen, das Geschäft ist weniger konjunkturabhängig als bei klassischen Chemiekonzernen.

Das Resultat ist bei Borregaard langsames, aber stetiges Wachstum. Im ersten Quartal stieg der Umsatz um zwei Prozent auf etwas über eine Milliarde Norwegische Kronen, der Überschuss kletterte um zwölf Prozent auf 73 Millionen Kronen. Positive Wechselkurseffekte werden sich im Lauf des Jahres stärker auf das Ergebnis niederschlagen, weil die Firma sich stark abgesichert hatte.

Dynamischer läuft es zurzeit bei der niederländischen Corbion. Das Unternehmen stellt biobasierte Produkte für die Bereiche Lebensmitteltechnologie, Landwirtschaft, Kosmetik, Haushalt, Medizin und Bioplastik her. Damit nahm Corbion im ersten Quartal 220 Millionen Euro ein, 20 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum. Der Gewinn vor Steuern, Zinsen und Abschreibungen stieg sogar um 48 Prozent auf 37,2 Millionen Euro. Ein 2014 aufgelegtes Programm zur Produktivitätssteigerung zeigt außerdem messbare Ergebnisse: So kletterte die Ebitda-Marge von 13,7 auf 16,9 Prozent.

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