BÖRSE ONLINE: Das Jahr 2020 war in vielerlei Hinsicht historisch: Das Coronavirus hat Börsen, Wirtschaft und Gesellschaft durcheinandergewirbelt. Nach dem heftigen Crash im Frühjahr ging es an der Börse wieder steil bergauf. So viele Menschen wie noch nie arbeiteten im Homeoffice. Gesundheitsthemen stehen plötzlich im Mittelpunkt der Berichterstattung. Wie blicken Sie auf das abgelaufene Jahr?
Robert Halver: Das Börsenjahr 2020 hat noch einmal deutlich vor Augen geführt, dass Zukunftsprognosen immer Rechnungen mit vielen Unbekannten sind. Niemand hatte so eine Pandemie mit all ihren konjunkturellen Kollateralschäden auf dem Radar.
Daneben muss festgestellt werden, dass noch vor Homeoffice und Digitalisierung die Liquiditätsschwemme der Notenbanken, die Liquiditätshausse, das Megathema an der Börse schlechthin war undbleiben wird.
Wie lange werden uns die wirtschaftlichen Folgen durch die Corona-Pandemie noch begleiten?
Mit den beispiellosen Konjunkturprogrammen hat man die Rezession massiv verkürzt. Doch selbstwenn die Impfstoffphantasie greift, werden wir das Vor-Corona-Niveau nicht vor Ende 2022 wieder erreichen. Die Börse bezahlt aber die positive konjunkturelle Zukunft, dass sich also die coronale Wirtschaftsflaute allmählich in das Gegenteil verkehrt. Ab dem zweiten Halbjahr wird die Weltkonjunktur deutlich zulegen.
2020 stand das Börsenjahr ganz im Zeichen der Corona-Krise, der US-Wahl, dem Brexit und dem US-Handelsstreit mit China. Welche Unsicherheiten erwarten die Aktienmärkte im neuen Jahr?
Wegen der unsicheren Weiterentwicklung der Pandemie ist auch das Ausmaß der Konjunkturerholung fraglich. Impfstoffe sind sicherlich ein positiver "Game Changer". Aber es ist unsicher, wann eine Bevölkerung so durchgeimpft ist, dass Lockdowns hinfällig sind. Außerdem müssen zwischenzeitliche Rückschläge wie Impfstoffengpässe ausgehalten werden. Es ist zu hoffen, dass Nebenwirkungen so gering wie möglich ausfallen.
Es würde die Psychologie von Verbrauchern wie Investoren sicherlich stabilisieren, wenn die Politik bis zu diesem "Impfziel" ein klares Gesamtkonzept verfolgen würde. Dabei müssen die Regeln klar, unmissverständlich und bundeseinheitlich sind. Vor allem müssen wir aus dem Lockdown der Marke "Stopp and Go" heraus. Das sorgt nur für Zermürbung und Verunsicherung mit wirtschaftlichen Schäden.
Daneben darf in Amerika nicht der Eindruck aufkommen, dass vier Jahre Biden/Harris nur eine Zwischenstation sind, bis der nächste - oder vorherige - Populist wieder im Weißen Haus sitzt. Denn leider zeigt der Beitritt von Ländern wie Australien, Südkorea und Japan - die historisch gesehen washington-freundlich und peking-kritisch sind - zur asiatischen Freihandelszone unter Führung Chinas, dass sie skeptisch sind, ob Amerika noch eine langfristige Führungsrolle spielen kann.
Es geht um nichts weniger als den entscheidenden Kampf, ob westliche Freiheits- und Demokratiewerte bzw. Wirtschaftsrechte oder autokratische Hau-Drauf-Methoden die Oberhand behalten. Diese Werte haben uns immerhin 70 Jahre Wohlstand und Sicherheit beschert.
Welchen Einfluss hat der US-Präsidentschaftswechsel auf das anstehende Börsenjahr?
Show time for Joe, Golf time for Donald: Biden steht für ein Amerika, das wieder weltweit eine aktive und positive Führungsrolle spielen will. Der autokratische Einfluss anderer Länder gerade auf Europa könnte nachlassen. Damit kommt wieder mehr geo- und handelspolitische Ruhe in die Finanzmärkte. Davon profitiert insbesondere Europa, das sich ohne amerikanische Schutzmacht geopolitisch nicht optimal darstellt. Europa erhält also mehr politische Sicherheit und damit stabile Rahmenbedingungen für seine Börsen.
In Deutschland steht im neuen Jahr die Bundestagswahl an. Wie dürfte sich diese auf die Aktienmärkte auswirken?
Zunächst sind Konjunktur, Biden, Impfstoffe und Geldpolitik die schlagenden Themen. Vor der Bundestagswahl wird die Politik keine großen wirtschaftspolitischen Entscheidungen treffen. Indem wir also leider das Gegenteil dessen tun, was Amerika und Asien machen, kann die Börse aus deutscher Politik keinen Nektar ziehen. Schon gar nicht können wir mit neosozialistischen Moral- beziehungsweise Steuererhöhungs- und Gerechtigkeitsdebatten punkten. Die Börse will Wirtschaftskompetenz sehen.
Welche Themen dürften die Börsen 2021 außerdem beschäftigen?
Die Liquiditätshausse geht in die Verlängerung. Mittlerweile sind selbst in Portugal die Zinsen abgeschafft. Und selbst wenn es zur Inflation käme, wird es keine restriktive Geldpolitik geben. Denn neue Inflationsdoktrinen erlauben es, auch Preissteigerungen oberhalb von zwei Prozent ohne restriktive Reaktion zuzulassen. Damit ist die Gefahr von Zinserhöhungen auf den Sankt-Nimmerleinstag vertagt. Die Notenbanker wissen natürlich, dass die Konjunkturprogramme der Euro-Länder ohne die Unterstützung der EZB zu einer Schuldenkrise führen würde, die jene der Finanz- und Eurokrise in den Schatten stellte.
Daneben wollen die Notenbanken verhindern, dass vergleichsweise hohe Zinsen die Währung zum Nachteil für die Exportwirtschaft stärken.
2021 werden sich die asiatischen Schwellenländer weiter positiv entwickeln. Das gute alte Industriemotto eines bekannten Autoherstellers, "Vorsprung durch Technik", dass Deutschland großmachte, macht jetzt Asien groß.
Dann erwarten viele ein gewaltiges Comeback der Inflation in Deutschland mit bis zu zehn Prozent. Denn die Kaufkraft, die lange in pandemischer Zwangs-Askese verharren musste, würde nach Beendigung der Lockdowns Reisebüros, Hotels und Restaurants etc. regelrecht stürmen. Da diese Nachfrage nur auf ein begrenztes Angebot träfe - weil beispielsweise Flugzeuge stillgelegt wurden oder Gaststätten und Kneipen K.O. sind - wären Preissteigerungen die logische Folge.
Doch bis die Bevölkerung durchgeimpft ist, wird es dauern. Kaufkraft kommt also nicht in Form einer unbändigen Flut auf die Konjunktur zu. Auch darf man die technologische Deflation nicht unterschätzen. In Industriebetrieben ersetzen Roboter immer mehr die Menschen. Sie verlangen keinen Urlaub, werden nicht krank, arbeiten 24/7, streiken nicht und wollen auch keine Lohnerhöhung.
Mittlerweile sind auch Rohstoffpreise müde Inflationskämpfer. Die Opec, die uns einst das Inflations-Fürchten lehrte, ist heute wegen der alternativen Fracking-Fördermethode ein ziemlich zahnloser Tiger.
Und selbst wenn es zur Inflation käme, wird man sich darüber bei der EZB freuen. Denn eine Preissteigerung, die oberhalb der Kreditzinsen liegt, frisst Staatsverschuldung wie von Zauberhand auf. Alternativ lässt sich die Verschuldung nicht mehr bändigen. Übrigens ist Inflation ein Treiber für das Sachkapital Aktien.
Ein weiteres großes Börsenthema ist das Geschäft mit Fusionen und Übernahmen. Wenn sich im nächsten Jahr die positiven Szenarien durchsetzen und sich die Risiken hinsichtlich Corona, Lockdowns, Rezession und US-Politik reduzieren und sich daher die Aktienmärkte weiter festigen, wird die Bereitschaft für größere Transaktionen deutlich zunehmen. Vor allem Übernahmen mit eigenen Aktien dürften eine Rolle spielen. Viele Unternehmen, die am Markt im Trend sind und von der Liquiditätshausse nach oben geschwemmt wurden oder IT-Werte, die von der Homeoffice-Kultur profitieren, werden die Gunst ihrer extrem hohen Marktkapitalisierung nutzen, um Konkurrenz mit Übernahmen zu vernichten. Mit der Akquisition von Substanz über eigene Aktien kann man auch unbefriedigenden Geschäftsmodellen Flügel verleihen.
Die gute Aktienstimmung wird auch zu deutlich mehr IPOs führen. Fusionen, Übernahmen und IPOs sind so etwas wie das Salz in der Börsensuppe.
Mit den aktuellen Rekordständen an den Börsen setzen die Anleger zunehmend auch auf die Zeit nach der Pandemie. In den Fokus rücken die Sektoren, die in den vergangenen acht Monaten stark Federn lassen mussten wie Touristik, Reise, Teile der Industrie (Auto), Flugzeugbau, teilweise auch Banken. Dagegen gelten Corona-Krisengewinner wie Tech-Werte schon jetzt als relativ teuer. Inwieweit erwarten Sie eine solche Sektor-Rotation für 2021 und welche Gewinner/Verlierer wird es geben?
Die abzusehende Entspannung im Handelskrieg sowie Impfstoffe verleihen konjunkturabhängigen Werten wieder Schwung. High-Tech-Werte sind nicht mehr einzigartig. Gleichzeitig atmen Value-Investoren auf, die seit 2017 im Vergleich zu Growth das Nachsehen hatten. Mit dem ökonomischen Tauwetter gewinnen sie wieder an Attraktivität.
Dennoch wird der High-Tech-Sektor im Trend weiter von seinen soliden Geschäftsmodellen profitieren. Digitalisierung, die industrielle Revolution 4.0, steht erst am Anfang. Mit der Dotcom-Blase und dem früheren Neuen Markt hat diese nichts mehr zu tun. Und der Sektor wird auch nicht von der Biden-Administration zerschlagen. Denn IT garantiert den USA technologische Verteidigungsfähigkeit gegenüber China. Kein Löwe lässt sich freiwillig Zähne und Krallen ziehen. Schwankungen wegen des Vorwurfs marktbeherrschender Stellungen wie bei Facebook müssen aber einkalkuliert werden.
Insgesamt läuft der Aktienmotor nicht mehr nur auf einem, dem High-Tech-Zylinder. Er läuft ruhiger und damit stabiler. Insgesamt ist also weniger von Branchenrotation, eher von Branchenergänzung zu sprechen.
Was erwarten Sie von den Billionen-Konjunkturprogrammen, die in Europa und den USA aufgelegt wurden und noch aufgelegt werden sollen?
Es wird weiter konjunkturell kaltgestartet. Das lässt sich ja auch an der deutschen Neuverschuldung 2021 ablesen.
In den USA haben sich kürzlich Demokraten und Republikaner auf ein Konjunkturpaket von 900 Milliarden US-Dollar geeinigt. Für weitere Maßnahmen wird man abwarten müssen, wie die Mehrheitsverhältnisse im Senat ausfallen, wo im Januar in Georgia Stichwahlen stattfinden. Sollten die Republikaner im Senat die Mehrheit behalten, wird es für die Demokraten schwierig werden, ihre umfangreichen Programme durchzusetzen. Diese sind für die nachhaltige Konjunkturerholung und nicht zuletzt die Versöhnung eines gespaltenen Landes dringend erforderlich. Beide Parteien sind vor allem dank Spaltpilz Donald heillos zerstritten. Das kann die US-Börsen mit Ausstrahlung auf andere Finanzplätze zwischenzeitlich durchaus irritieren. Grundsätzlich wird es auf die soziale und emotionale Kompetenz von Präsident Joe Biden und seiner Finanzministerin Janet Yellen ankommen.
Anfang Januar 2021 wird die wegen der Corona-Pandemie auf 16 Prozent gesenkte Mehrwertsteuer wieder auf 19 Prozent angehoben. Was bedeutet das für den Konsum der Deutschen?
Sicher wurden größere Anschaffungen wie Autokäufe und Immobilien vorgezogen, die 2021 fehlen werden. Doch wirken neue Konjunkturprogrammen, der Wegfall des Solis für 90 Prozent der deutschen Einkommensbezieher und impfbedingte Lockerungen diesem Handicap entgegen.
Christine Lagarde hat das erste Jahr als Chefin der Europäischen Zentralbank (EZB) hinter sich. Man erhoffte sich unter anderem Unterstützung im EZB-Rat, den Lagardes Vorgänger Mario Draghi mit einigem Gesprächsbedarf zurückgelassen hatte. Konfliktthemen waren unter anderem die erneute Aufnahme des Anleihekaufprogramms sowie das Verharren des Leitzinses auf dem Rekordtief. Welches Resümee ziehen Sie nach diesem Jahr für die EZB und nach einem Jahr Lagarde?
Nach Über-Vater Mario Draghi ist Christine Lagarde die Über-Mutter des billigen und üppigen Geldes. Sie setzt gegenüber Draghi sogar noch einen drauf: Die geldpolitische Staatsfinanzierung hat unter ihr mit dem Argument Corona-Pandemie weiter zugenommen. Und mit Blick auf den grünen Umbau der Wirtschaft wird sie noch massivere Züge annehmen. Die Europäische Stabilitäts- entwickelt sich unaufhaltsam zur Romanischen Schuldenunion, bei der die EZB die Schulden der Fiskalpolitik zahlt. Man hat freundlich miteinander fusioniert. Wie will man das jemals wieder trennen?
In den USA werden die finanziellen Geschicke künftige von Janet Yellen als Finanzministerin und Fed-Chef Jerome Powell gelenkt. Was bedeutet das für die US-Wirtschaft?
Frau Yellen ist so etwas wie der Rockstar unter den Konjunkturpolitikern Amerikas. Schon an der Spitze der Fed betrieb sie eine klar wirtschaftsfreundliche Geldpolitik. Übrigens ist sie ebenso durchsetzungsstark wie überzeugungsfähig. Sie hat immer auf ein gutes Verhältnis zu beiden politischen Lagern geachtet. Diesen Umstand wird sie im Sinne einer Charme-Offensive nutzen, um möglichst üppige Konjunkturpakete durchzusetzen.
Der Handelskonflikt zwischen den USA und China wurde unter dem amtierenden US-Präsident Donald Trump bis zuletzt nicht entschärft. Welche Chancen sehen Sie für die künftige Zusammenarbeit im neuen Jahr und unter einem neuen Präsidenten?
China ist über den Wahlsieg Bidens wenig erfreut. Das Feindbild Amerika verliert in China an Kraft. Eine weitere geopolitische Spaltung durch einen Wahlsieg Trumps hätte Peking noch mehr strategischen Einfluss auf das westliche Bündnis gewährt. Ein Amerika, das seinen Rückzug in die Isolation beendet und auf der Weltbühne zurück ist, erschwert diese Strategie jetzt.
Grundsätzlich hat Biden nichts gegen eine friedliche Koexistenz mit China, wenn es seine unfairen Handelspraktiken beendet. Allerdings braucht auch Amerika ein Feindbild. Eitel Sonnenschein wird also nie herrschen. Doch wenn statt Konfrontation mehr Kooperation und statt Handelskrieg mehr weltwirtschaftliches Potenzial an der Tagesordnung ist, liegt darin für die Aktienbörse eine große fundamentale Chance.
Was bedeutet das für deutsche Exportfirmen?
Europa freut sich über zukünftig wieder mehr transatlantisches, auch handelspolitisches Tauwetter insbesondere mit Blick auf seine Exportwerte.
Allerdings sind auch die Demokraten keine unlimitierten Gutmenschen. Biden-Amerika denkt auch zunächst nur an sich. Biden wird auf "Buy American" und Produktion im In-, nicht im Ausland setzen. Und so gibt es die Leistung eines erhöhten transatlantischen Mitgefühls der USA auch nur für handels-, verteidigungs- und geopolitische Gegenleistungen. Nicht zuletzt will Biden, dass wir uns in der US-chinesischen Auseinandersetzung auf die amerikanische Seite stellen.
Europa muss das Zeitfenster der Entspannungspolitik Bidens nutzen, um endlich auf eigenen Füßen zu stehen. Wer weiß schon, wer 2024 US-Präsident wird. Oder wollen wir alle vier Jahre beten, dass bloß ein Europa-freundlicher Präsident gewählt wird, der uns möglichst viel geo-, wirtschafts- und handelspolitische Schmutzarbeit abnimmt?
Der (wirtschafts-)politische Müßiggang Europas muss beendet werden. Wir müssen erwachsen werden, selbst Gewicht auf die globale Waage bringen. Selbst wenn es schwer ist, es geht um Zusammenhalt, Innovationspolitik und Wettbewerbsfähigkeit. Nach dem II. Weltkrieg ist Deutschland nicht mit politischem Gesundbeten und Staatswirtschaft zu einer führenden Industrienation geworden. In diesem Zusammenhang müssen die wirtschaftlichen Chancen des Megathemas Klimaschutz genutzt werden, statt nur ideologische Debatten zu führen. China und Amerika nehmen sich dieses Themas brutal an, um es uns möglichst wegzunehmen. Die großzügigste Geldpolitik der EZB und die Verteilung von Geldgeschenken zum Erhalt der europäischen Freundschaft ersetzen keine zukunftsfähige Wirtschaftspolitik.
Sollte Europa diese Wende nicht schaffen, heißt das zwar nicht, dass europäische Aktien nicht steigen werden. Aber ihre bereits lange Underperformance gegenüber der amerikanischen Konkurrenz setzt sich dann unbeirrt fort.
2021 wird der DAX von 30 auf 40 Werte ausgeweitet und die Zugangsregeln werden strenger. Welche Chancen und Risiken sehen Sie durch diese Reform?
Es ist grundsätzlich richtig, dass der DAX auf 40 Werte ausgeweitet wird. Es macht ihn breiter, stabiler und aufgrund einer erhöhten Marktkapitalisierung für ausländische Anleger auch attraktiver. Außerdem ist es möglich, dass im nächsten Jahr drei Siemens-Titel im deutschen Leitindex vertreten sind: Siemens Mutter, Siemens Energy und Siemens Healthineers. Das sind sicherlich solide Unternehmen. Aber ein Index sollte ja nicht zum Familientreffen werden. Und dass eine positive Ertragslage und eine zügige Berichterstattung auch wieder eine Rolle bei der Indexmitgliedschaft spielen, die verhindern, dass Einzelwerte nur aufgrund von glücklichen Entwicklungen aufgenommen werden, ist auch zu begrüßen. Doch sollte es nicht bei 40 Werten bleiben. Der DAX sollte noch umfangreicher werden, um mit den Indices in Europa, vor allem aber in Übersee zu konkurrieren.
Kritiker befürchten, dass die DAX-Erweiterung zulasten des Nebenwerteindex MDAX geht, der damit von 60 auf 50 Titel verkleinert wird. Damit verliert der Index rund ein Drittel seiner Marktkapitalisierung und auch seine stärksten Werte. Teilen Sie diese Kritik?
In der Tat verliert der MDAX an Attraktivität, wenn seine größten Werte in den DAX aufsteigen. Von daher halte ich es für erstrebenswert, DAX und MDAX zu verschmelzen. Es sollte einen großen deutschen Leitindex geben. Er hätte eine umfassende Marktkapitalisierung und wäre aufgrund seiner immensen Breite an patentstarken, konjunkturzyklischen Aktien besonders attraktiv. Daneben sollte es eine Art "Innovationsindex" geben, in dem die jungen Unternehmen eine hervorgehobene Plattform und damit Dünger finden, um langfristig zu gedeihen.
Anfang 2020 ist das Vereinigte Königreich aus der Europäischen Union ausgetreten. Mittlerweile gibt es auch ein Handelsabkommen zwischen Großbritannien und der EU. Welche Gefahr stellt das Thema angesichts der sonstigen Herausforderungen in der Welt noch dar?
Der Brexit ist sicherlich ein Thema für die Börsen. Fundamental hat er für Import- und Exportfirmen eine große Bedeutung. Aber die werden sich sicherlich auf das worst case-Szenario eingestellt haben. Grundsätzlich beherrschen Megathemen wie Corona, Lockdowns, neuer US-Präsident, Renaissance des transatlantischen Wertebündnisses oder Geldpolitik das Börsengeschehen. Auch hieran zeigt sich, dass Großbritannien keine Weltmacht mehr ist.
2020 war das Interesse an Unternehmen aus der Wasserstoffbranche sehr groß. Woher kommt dieser Trend und setzt er sich 2021 fort?
Klimaschutz und nachhaltige Mobilität sind "en vogue". Platzhirsch bei Antrieben ist der E-Motor, doch gewinnt Wasserstoff immer mehr an Bedeutung. Wird Wasserstoff aus regenerativen Energien gewonnen, ist der Brennstoffzellenantrieb sogar komplett klimaneutral. Klar im Fokus steht vor allem die Anwendung in der Industrie sowie im Fahrzeug- und Schienenverkehr. Dabei sind die unternehmensseitigen Entwicklungsbudgets gewaltig und auch die coronalen Konjunkturpakete - zum Beispiel die Nationale Wasserstoffstrategie der Bundesregierung - spülen Geld in die Forschungskasse.
Zudem beziehen auch große Kapitalsammelbecken Nachhaltigkeitskriterien immer mehr in ihre Anlageentscheidungen mit ein. Damit nimmt der Wasserstoff-Trend im kommenden Jahr weiter Fahrt auf.
Aber der Weg in puncto Ökobilanz, Wirkungsgrad, Kosteneffizienz und Marktreife ist noch weit. Da Wasserstoff-Aktien an der Börse teilweise enorme Vorschusslorbeeren gewährt werden, ist auch mit deutlichen Kurskonsolidierungen zu rechnen.
Ihr persönlicher Anlagetipp: Worauf würden Sie 2021 setzen?
Konjunkturzykliker: Die abzusehende Entspannung im Handelskrieg sowie die Impfstoff-basierte Aussicht auf Lockdown-Lockerungen ab Frühjahr verleihen konjunkturabhängigen Werten weiteren Schwung. Neben Industrie- und Autowerten bieten Chemie- und Elektrobranche Aufwärtspotenzial. So haben Automobilhersteller, die bisher in puncto Elektromobilität eher im Schatten des US-Konkurrenten Tesla standen, 2021 gute Chancen. Hersteller wie VW, Daimler und BMW haben den Marktstart diverser Elektroautos für Anfang, spätestens aber im Laufe des Jahres 2021 geplant.
Information Technology: Das Geschäftsmodel Digitalisierung ist völlig intakt. Insbesondere kleinere Werte, die Nischen besetzen, werden gefragt sein. Sie müssen sich weniger dem Verdacht der Marktbeherrschung aussetzen.
Erneuerbare Energie: Wenn sich Amerika unter Biden von der fossilen Ära verabschiedet und sich dem Klima- und Umweltschutz widmet, wird es auch an den Aktienmärkten zu einem wuchtigen Anlagethema. Mit dem geplanten Wiederbeitritt zum Pariser Klimaabkommen und umfangreichen Investitionen in Clean Energy erhöht Joe Biden die Aussichten für diese Branche. Das Gleiche gilt für Aktien, die die sogenannten ESG-Kriterien (Environmental, Social, Governance, also Umwelt, Soziales und gute Unternehmensführung) erfüllen. Werden diese wie in der EU mit der Vision eines Green Europe auch in Amerika immer stärker administrativ vorgegeben, geht an ihnen kein Weg vorbei.
Outperformance US- gegenüber Euro-Aktien: Insgesamt dürften sich die amerikanischen Aktienindices auch 2021 besser entwickeln als die europäischen. Denn während sich Amerika als Hegemon zeigt, der wirtschaftspolitische Entscheidungen mit klarem Weitblick trifft, leidet Europa beharrlich unter politischer Disharmonie und Wettbewerbsschwäche. Immerhin kann der deutsche Aktienmarkt von seiner Exportphantasie leben.
Schwellenländer: Die fernöstlichen Schwellenländer haben viel an vor-coronaler Konjunkturstärke zurückgewonnen. Asien ist die innovativste Region der Welt. Dort sind viele Länder bereits regelrechte Tech-Hubs. Und China ist zurzeit der stärkste Wachstumsmotor der Welt. Längerfristig sorgt ein asiatisches Freihandelsabkommen, das ein Drittel des Welthandelsvolumens umfasst, für noch mehr Wirtschaftsstärke. Da die Schwellenländer hoch in US-Dollar verschuldet sind, kommt ihnen und ihren Aktienmärkten die geopolitische Entspannungspolitik Bidens entgegen. Diese macht den US-Dollar nicht mehr zum gesuchten sicheren Hafen für kapitalflüchtiges Geld aus Asien. Insgesamt setzt sich die Stabilisierung der asiatischen Aktienmärkte, die keine Minderperformance zu den Industriestaaten mehr aufweist, fort. Im Vergleich fällt Lateinamerika deutlich ab.
Gold: Auch 2021 sind (Schulden-)Krisen nicht ausgestorben, so dass Gold als sicherer Anlagehafen grundsätzlich gefragt bleibt. Doch sorgt jede Impfstoff-seitige, geo- und handelspolitische Entspannung unter dem neuen US-Präsidenten für weniger Drang in diesen sicheren Hafen. Dennoch, dass Anleger in immer weiterem Umfang Halteprämien für Anleihen zahlen statt Zinsen zu vereinnahmen, bleibt ein wichtiges Argument für Gold. Zudem hält die Diversifizierungspolitik der Notenbanken aus beispielsweise Russland oder China in das sachkapitalistischste aller Anlagegüter an, um die Abhängigkeit von US-Staatspapieren zu mildern.
Silber: Für die alternative Energieversorgung wird mehr Silber gebraucht. Für Solarpaneele, Sensoren von Windturbinen sowie in der gesamten E-Mobilität und beim Aufbau des 5G-Netzes ist das Weißmetall unverzichtbar. So rechnen US-Banken damit, dass die jährliche Silbernachfrage bis 2035 um fast 90 Prozent von zurzeit 2.300 auf etwa 4.300 Tonnen explodieren könnte. Im Extremfall könnte es sogar zu einem Nachfrageüberhang kommen, der dem Silberpreis ähnlich viel Leben einhauchen würde wie zuletzt 2011. Damals stieg der Silberpreis auf fast 50 Dollar. Allerdings reagiert Silber als Industriemetall sensibel auf weltwirtschaftliche Enttäuschungen.
Industriemetalle: Spätestens mit der zunehmenden Durchimpfung, dem Ende der Lockdowns und weiteren großzügigen Konjunkturmaßnahmen wird die Weltwirtschaft wieder nachhaltig Tritt fassen. Hier bietet das hochzyklische Industriemetall Kupfer weiter gute Chancen. Tatsächlich gewinnt es gegenüber der Sicherheitsanlage Gold an Bedeutung. Auch die globale Dekarbonisierung spielt eine wichtige Rolle. Zur Produktion von emissionsfreien Generatoren, Motoren, Computerchips oder ähnlichem werden gut leitende und leicht zu verarbeitende Metalle verwendet. Neben Kupfer stehen auch Nickel oder Aluminium im Fokus.