Es sind chaotische Zeiten in Großbritannien: Die Unsicherheit hinsichtlich des Brexit nimmt weiterhin zu und es scheint, dass weder Marktteilnehmer noch Politiker eine klare Vorstellung davon haben, wie der Brexit gestaltet werden soll. Anleger scheinen angesichts eines Umfelds, das von einer extremen Unsicherheit geprägt ist, zu dem Schluss gekommen zu sein, dass Großbritannien im aktuellen Zustand "uninvestierbar" ist. Und diese Stimmung schlägt sich auch in Zahlen nieder. Anleger ziehen sich aus britischen Papieren zurück, mit der Folge, dass die Bewertungen britischer Aktien im Vergleich zu Europa gesunken sind. Gleichzeitig erreichte die relative Bewertung des FTSE 100 gegenüber Europa Ende 2018 ein Achtjahrestief. In einer globalen Umfrage unter Fondsmanagern erweist sich Großbritannien als die meistgehasste Region. Viele Fondsmanager und Anleger meiden den Markt komplett.
Auch wenn diese Kurzschlussreaktion auf die extreme Unsicherheit durch den Brexit verständlich ist, müssen wir uns überlegen, worin unsere eigentliche Aufgabe als Investmentanalysten und -manager besteht. Für mich ist die Antwort klar: Es geht darum, kalkulierte Risiken unter unsicheren Bedingungen einzugehen. Eine besonders große Unsicherheit ist für Anlageanalysten und -manager prinzipiell nur eine geringfügige Abweichung von ihrer täglichen Routine - dem Eingehen kalkulierter Risiken in einem Umfeld, dessen Entwicklung ungewiss ist. Es sollte sich hierbei also im Prinzip um "Business as usual" handeln, wenn auch unter deutlich schwierigeren Bedingungen als üblich.
Vor diesem Hintergrund und angesichts der Tatsache, dass andere Akteure das mit Großbritannien und dem Brexit verbundene Risiko vollständig aus ihren Portfolios verbannt haben, wollen wir bei der Anlage in britische Aktien anders vorgehen. Zunächst analysieren wir jedes der Unternehmen, an denen wir interessiert sind (entweder als Long- oder Short-Position) für sich allein genommen, ohne dabei geopolitische Faktoren zu berücksichtigen. So erhalten wir eine Vorstellung davon, ob wir in Bezug auf den Titel Long oder Short gehen würden, wenn es die Verwirrung und die unübersichtliche Nachrichtenlage rund um den Brexit und die britische Regierung nicht gäbe. Anschließend analysieren wir, welche negativen Szenarien eintreten könnten, und betrachten auch die politische Gemengelage und welche Auswirkungen sich daraus ergeben könnten.
Das führt zu einer ganzen Reihe verschiedener Szenarien - von günstigen über irrelevanten bis hin zu geradezu schockierenden. Letztlich müssen wir eine wahrscheinlichkeitsbasierte Entscheidung treffen. Dann können wir die Titel, die wir kaufen möchten, genauer betrachten. Wenn wir bei einem bestimmten Titel wissen, dass es einige Szenarien gibt, in denen wir Geld verlieren könnten, wir aber in den meisten Szenarien voraussichtlich langfristig (drei bis fünf Jahre) einen Wertzuwachs erreichen, kaufen wir. Genauso handhaben wir es in umgekehrter Weise bei den Short-Positionen. Infolgedessen erwerben wir in begrenztem Umfang britische Inlandsaktien. Es gibt derzeit viele "schlechte Tage" am Markt, an denen wir uneingeschränkt Titel zu Preisen erwerben können, die uns vorteilhaft erscheinen.
Ein Beispiel für diesen Ansatz ist Serco, ein breit aufgestelltes Dienstleistungsunternehmen mit vielen öffentlichen Aufträgen, das nach unserem Bewertungsmodell sehr günstig ist. Serco hat in letzter Zeit viele Aufträge erhalten. Natürlich besteht das Potenzial für schlechte Nachrichten, insbesondere sollten öffentliche Aufträge bei einem möglichen Regierungswechsel wegfallen. Abgesehen davon sind wir aber zuversichtlich. Ein anderes Beispiel ist der britische Ziegelhersteller Forterra, der sehr positive Fundamentaldaten aufweist. Nach unserem Reserve- Discounted-Cashflow-Modell erscheint die Aktie im Vergleich zum Markt günstig. Unabhängig davon, wer in Großbritannien regiert, dürften dort auch in Zukunft Häuser gebaut werden.
James Clunie: Clunie ist Fondsmanager des Jupiter Global Absolute Return, besitzt einen Bachelor of Science und einen Doktorgrad der University of Edinburgh. Er ist außerdem diplomierter Finanzanalyst. 2013 kam er zu Jupiter. Der börsennotierte Investmentmanager mit boutiqueähnlichem Anlagestil und Sitz in London wurde 1985 gegründet. Das insgesamt von Jupiter verwaltete Vermögen beläuft sich auf 53,6 Milliarden Euro.