Er hat durchaus eigene Vorstellungen, was die Begegnung mit zeitgenössischer Kunst betrifft. Die Besucher der Fondation Carmignac sind angehalten, an einem Stand unter freiem Himmel erst mal einen Tee zu sich zu nehmen: "Er soll die Leute aufwecken. Und stimulieren." Später, noch vor dem Abstieg in den unterhalb der Villa gelegenen kreuzförmigen Ausstellungsraum, verlangt er von seinen Besuchern, sich der Schuhe zu entledigen und nach Möglichkeit auch der Socken. Es sei wichtig, dass man die Erdung spüre beim Betrachten der Bildwerke. Geht er hier, womöglich ein bisschen esoterisch, auf Distanz zum Vater?
Seit zwei Jahren fungiert Charles Carmignac, ältester Sohn des milliardenschweren französischen Fondsmanagers Edouard Carmignac, als Direktor der Kunststiftung. Es ist diese Rolle, die es beiden erlaubt, Gemeinsamkeiten zu entdecken. "Mein Vater und ich sind sehr verschieden", bekennt er freimütig in der Freiluftcafeteria vor dem zum Anwesen gehörenden Weingut. "Unterschiedliche Sensibilität, Unterschiede, wie wir Dinge sehen. Aber auf dem Gebiet der Kunst gibt es eine Konvergenzzone, Felder der Übereinstimmung. Es ist eine schöne Brücke, über alle Unterschiede hinweg. Es gibt die Verbindung vor einem Kunstwerk."
Seit zwei Jahren bekleidet "CC" seine Funktion. Wer ihn dort erlebt, bekommt den Eindruck, der 41-Jährige, der während des besseren Teils des Jahres zwischen der südfranzösischen Insel Porquerolles und Paris pendelt, habe seine Bestimmung gefunden.
Von Edouard Carmignacs vier Kindern ist nur die älteste Tochter Maxime seinem Vorbild gefolgt. Seit Anfang des Jahrzehnts Managing Director der Londoner Niederlassung, werden ihr Chancen auf den Chefsessel nachgesagt, wenn der Vater mal abtritt. Ihre jüngere Schwester Lucrèce ist eine mittelmäßig erfolgreiche Schauspielerin; in Deutschland war sie zuletzt in einer Nebenrolle der französischen Komödie "Ein Dorf zieht blank" zu sehen. Seinen jüngsten Sohn Hugues, lange als Polospieler aktiv, hat Carmignac als Geschäftsführer seiner Domaine de la Courtade auf Porquerolles eingesetzt, auf der ernst zu nehmende Rot-, Weiß- und Roséweine erzeugt werden. Und sein Ältester?
Charles Carmingnac wird 1978 geboren und scheint zunächst die Erwartungen erfüllen zu wollen. Er studiert an der École des hautes études commerciales in Paris und an der privaten Wirtschaftshochschule ESCP Europe. Bald nach Abschluss gründet er eine digitale Wirtschaftspublikation, verkauft sie mit Gewinn an "Les Échos", Frankreichs führende Finanzzeitung - und schlägt einen anderen Weg ein: Charles Carmignac ist Ende 20, als er Mitglied einer multinationalen Folkrockband wird, die sich Moriarty nennt, nach dem Protagonisten von Jack Kerouacs Beatnikbibel "Unterwegs". Das Ensemble veröffentlicht zwischen 2007 und 2017 sechs Alben, begeistert (sich) aber vor allem als Liveband, deren "individuellen Blues-Chansons" die "FAZ" mal "Pariser Flair und die Spontaneität von Straßenmusikern" attestiert und die CC mit E-Gitarre und Dobro, einer metallischen Resonatorgitarre, entscheidend prägt.
Es ist vielleicht nicht die Karriere, die sich der Vater für seinen Erstgeborenen erträumt hat, doch ganz ohne Verständnis dürfte er nicht sein. Schließlich hat sich Edouard Carmignac vielfach selbst als Rockfan geoutet, besonders spektakulär bei seinen jährlichen Soirées annuelles in Paris, die er gern mit Konzerten von Superstars wie Rod Stewart, Eric Clapton, Neil Young oder gar den Rolling Stones würzt. Einmal, 2011, verzichtet er auf den ganz großen Namen und lädt Moriarty auf die Bühne. Gäste, die damals dabei waren, schwärmen noch heute von einem hinreißenden Abend.
Doch dann trennt sich CC von seinen Musikern. "Ich war ewig on the road, wir haben mehr als 1.000 Konzerte in 35 Ländern gespielt, viele davon in Deutschland. Dann, ungefähr vor drei Jahren, erreichten wir das Ende eines Zyklus. Gleichzeitig war mein Interesse an der Fondation gewachsen." Es ist just die Zeit, in der das Lieblingsprojekt des Vaters ins Stocken geraten ist.
Sammeln, Leidenschaft
Eingeweihte wissen schon lang um die Leidenschaft des Milliardärs für moderne und zeitgenössische Kunst. Bereitwillig hat er sich immer wieder, auch für €uro am Sonntag, in seinem Büro an der noblen Place Vendôme in Paris unter Andy Warhols großen Porträts von Lenin und Mao ablichten lassen. Inzwischen umfasst seine Sammlung um die 300 mehr oder weniger hochkarätige Werke, über die Jahre verteilt in den Niederlassungen der Fondsgesellschaft.
Für die Öffentlichkeit aber war die Kollektion unzugänglich. Das blieb sie selbst dann noch, als der Manager Ende der Nullerjahre eine Villa auf Porquerolles erwarb. Die strengen Auflagen der unter Naturschutz stehenden Insel vor der Côte d’Azur verbieten größere Anbauten. Er entschloss sich, seine Ausstellungsflächen, am Ende 2.000 Quadratmeter, unter die Villa zu graben, eine diffizile und kostspielige Aufgabe.
Als dann Vorgaben zur Nachhaltigkeit den ehrgeizigen Plan behindern, das Grundstück um die Villa in einen Landschaftspark mit bildhauerischen Interventionen zu verwandeln, kam sein Sohn ins Spiel. "Meine Vorschläge", erinnert sich Charles, "wie man die Hindernisse für die Autorisierung durch die Behörden - wir befinden uns immerhin mitten in einem Nationalpark - überwinden könnte, fanden Akzeptanz." Gleichzeitig stand ein Wechsel in der Direktion an. "Alles ergab sich ganz natürlich. Vielleicht", mutmaßt er, "standen die Sterne gerade richtig."
Die erste Präsentation sollte im vergangenen Jahr möglichst viele Werke aus Carmignacs Kollektion zeigen; für die bis Anfang November laufende zweite Schau, die der Sohn mit der renommierten italienischen Kuratorin Chiara Parisi konzipiert hat, ist die Auswahl deutlich konzentrierter. Die etwa 50 Exponate bilden einen ebenso überschaubaren wie ansprechenden Querschnitt durch die väterliche Kollektion, ergänzt um ein paar Leihgaben und ortsspezifische Neuschöpfungen.
Das Interesse daran weiß CC zu lenken. Maximal 50 Besucher pro halbe Stunde lässt er in die Schau, wohl auch, um deren Titel bestmöglich zu bedienen. "La Source", betont er, beziehe sich ja nicht auf die Quellen, aus denen die beteiligten Künstler geschöpft haben, die Ausstellung wolle vielmehr selbst Quelle der Inspiration sein. Das gelingt, schon weil der Vater weniger in anstrengende Konzeptkunst investiert, sondern bei seinen Akquisitionen offenbar von ästhetischen Prinzipien geleitet wird. Dabei setzt er nicht so sehr auf Entdeckungen als auf etablierte Namen. Was den Marktwert seiner Sammlung sicherlich nicht verringert.
Könnte sie ihre Wirkung auch anderswo entfalten? CC überlegt. "Das ist eine gute Frage", sagt er dann. "Zwei Gedanken: Als er zu sammeln begann, hatte mein Vater keinen spezifischen Ort im Sinn. Seine Kriterien waren die persönliche Anziehung und die Absicht, sie zunächst mit seinen Freunden zu teilen und später mit seinen Mitarbeitern, die er damit zu inspirieren hoffte. Insofern besteht keine Verbindung zu dieser Villa auf dieser Insel. Andererseits hat derselbe Mann diese Kunst und dieses Haus ausgesucht. Insofern gibt es doch einen gemeinsamen Resonanzboden."
Wie viele Künstler, die die Bühne suchen, ist CC ein scheuer Mensch. Als er 2010 der Einrichtungsbeilage der "New York Times" die Türen zu seinem Pariser Appartement im 14. Arrondissement öffnete, das er kurz zuvor mit seiner Frau Julie bezogen hatte, war dies wahrscheinlich der intimste Einblick, den er je zuließ. Bei unserem Treffen in der Open-Air-Cafeteria der Fondation spricht er leise und zurückhaltend, allerdings durchaus redselig, wenn es um die Kunst geht.
Gibt es Werke in der Ausstellung, zu denen er eine besondere Beziehung hat? Er nickt und verweist auf "eine Familie: ein Gerhard Richter neben einem (erst im vergangenen Jahr erworbenen, Anm. d. Red.) Sigmar Polke neben einem Albert Oehlen". Der war ein Schüler von Polke, der seinerseits von Richter beeinflusst war. In der Abstraktion von Oehlen erkennt CC eine Wolke und darin den Umriss eines Samurai, "der sich mit Energie daraus befreien will. Für mich ist das wie ein Sinnbild der Stärke, mit der wir uns durch dieses Projekt gekämpft haben, mit der Zurückhaltung und dem Respekt eines Samurai."
Als Zweites nennt er "Les trois alchimistes", ein Ensemble des katalanischen Bildhauers Jaume Plensa im Garten der Villa: "Sie scheinen gleichzeitig den Wald hinter sich zu bewachen und in sich selbst hineinzuschauen, um einen Wandel in ihrem Innern vorzubereiten. Und das ist ja das Ziel des ganzen Unternehmens: Die Besucher sollen den Raum zwischen der Kunst und der Natur ausdehnen und damit möglicherweise die Art und Weise verändern, wie sie sich in der Welt bewegen."
Und wie bewegt er sich selbst in der Fondation Carmignac? "Nun ja, sie ist zu meinem Leben geworden", sagt er und wirkt nicht unglücklich dabei. "Es fühlt sich so an, als seien all die Wege, die ich bisher gegangen bin, hier zusammengeflossen. Ich war schon immer neugierig auf Architektur, Natur, Ökologie, Politik und Management. Jetzt habe ich die Gelegenheit, das alles zu nutzen." Und er kümmert sich damit um Dinge, zu denen der Vater (noch) nicht kommt.
Ausstellung:
An der Quelle
Die Fondation Carmignac zeigt auf der französischen Mittelmeerinsel
Porquerolles noch bis zum 3. November die Ausstellung "La Source". Öffnungszeiten im Juli und August 9.30 bis 19 Uhr, sonst 10 bis 18 Uhr. Der Eintritt, nur nach Voranmeldung, ist im 30-Minuten-Rhythmus für maximal 50 Besucher frei.
fondation
carmignac.com
Sammler:
Die Kunstkonkurrenz
Kunst zu sammeln zählt bei wohlhabenden Franzosen spätestens seit Napoléon zum guten Ton (wobei der sie eher entwendet als erworben hat). Zu den prominentesten Sammlern gehören die beiden Luxusimperiumkonkurrenten Bernard Arnault und François Pinault,
die einander zuletzt mit Spenden für den Wiederaufbau von Notre-Dame überboten. Ersterer hat 2014 für seine Fondation Louis Vuitton von Stararchitekt Frank Gehry einen spektakulären Glaspalast in den Pariser Bois de Boulogne setzen lassen. Letzterer kontert wohl noch in diesem Herbst in der dafür eigens von Tadao Ando umgestalteten
Börse im ersten Arrondissement mit
seiner Collection Pinault.
www.fondationlouisvuitton.fr
www.boursedecommerce.fr