Die Aufgaben für Christine Lagarde, die erste gelernte Juristin an der Spitze der Europäischen Zentralbank (EZB), in der achtjährigen Präsidentschaft sind enorm. Die Französin erbt eine Wirtschaft in schwacher Verfassung und eine Inflationsrate, die seit Jahren hartnäckig unter der EZB-Zielmarke von knapp unter zwei Prozent verharrt. Und mit Leitzinsen auf historisch niedrigem Niveau sowie billionenschweren Anleihenkäufen ist das geldpolitische Arsenal der Euro-Notenbank bereits sehr weit ausgereizt.
Lagarde war während der globalen Finanzkrise in den Jahren 2007 bis 2011 Finanzministerin Frankreichs. Als IWF-Chefin musste sie sich ab 2011 intensiv mit der Euro-Schuldenkrise beschäftigen. Der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, hält die Französin für eine exzellente Wahl. "Sie versteht sowohl mit Finanzmärkten und Politikern als auch mit Bürgerinnen und Bürgern zu kommunizieren", sagt Fratzscher, der früher selbst für die EZB als Manager gearbeitet hat. Dies sei für die EZB in diesen schwierigen Zeiten in Europa essenziell. Lagarde habe sich beim IWF als Krisenmanagerin bewährt. Den in der Rettungspolitik weitgehend unerfahrenen Europäern habe sie "riesige Unterstützung" bei den Hilfsprogrammen zur Lösung der Krisen Griechenlands, Irlands und Zyperns erwiesen.
"POLITISCH SEHR GUT VERDRAHTET"
Diese Jahre haben Lagarde nach Einschätzung von Experten sehr stark geformt. "Dadurch ist sie auch sehr gut politisch verdrahtet, was wichtig ist, sollte es eine weitere Krise geben", sagt JP-Morgan-Volkswirt Greg Fuzesi. In ihrer jüngsten Mitteilung als IWF-Chefin hob die 63-Jährige erst vor wenigen Tagen hervor, dass die Wirtschaft weltweit eine schwierige Phase durchlaufe. Größtes Risiko seien die Handelskonflikte. Den Zentralbanken riet sie, ihre Geldpolitik den Konjunkturdaten anzupassen.
Die Gefahr, dass die EZB unter Lagarde zu stark in politische Fahrwasser geraten könne, sehen die meisten Experten nicht. NordLB-Chefvolkswirt Christian Lips geht davon aus, dass sie die Unabhängigkeit der Notenbank verteidigen wird. Ihre Durchsetzungsfähigkeit habe sie mehrfach unter Beweis gestellt. "Zudem wird sie vielleicht noch intensiver und überzeugender als Mario Draghi einen Beitrag der Fiskalpolitik zur makroökonomischen Stabilisierung einfordern können." Ob sie damit Erfolg haben und damit langfristig etwas Druck von der EZB nehmen werde, sei aber alles andere als ausgemacht. Ökonom Thomas Gitzel von der Liechtensteiner VP Bank gibt allerdings zu bedenken, dass während Lagardes Zeit als Finanzministerin ein Defizitverfahren gegen Frankreich eingeleitet worden sei: "Wie unabhängig sie zukünftig gerade in wirtschaftlichen Krisenzeiten handeln wird, bleibt abzuwarten."
An den Börsen wurde ihre Nominierung positiv aufgenommen, da Anleger eine Fortsetzung der lockeren geldpolitischen Ausrichtung erwarten. Der IWF hatte sich beispielsweise unter ihrer Führung für die billionenschweren Anleihenkäufe der großen Notenbanken ausgesprochen.
KOMMUNIKATIVER FÜHRUNGSSTIL
Experten gehen davon aus, dass unter Lagarde der Führungsstil in der Notenbank kommunikativer sein wird als unter Draghi. "Lagarde würde wahrscheinlich mehr Moderator als intellektueller Vordenker in der Geldpolitik sein", sagt ING-Deutschland-Chefvolkswirt Carsten Brzeski. Einige Ratsmitglieder hätten bemängelt, es würden zu viele Entscheidungen nur im kleinem Kreis getroffen. In den vergangenen Jahren wurden nach Auskunft von Währungshütern viele weitreichende Beschlüsse, etwa zu den Anleihenkäufen, sehr stark von Draghi geformt. Auf Sitzungen des EZB-Rats wurden demnach häufig nur noch Details ausgearbeitet - die großen Linien standen schon fest.
"Mario Draghi war sehr nah an den Märkten dran und hat auf sie vielleicht etwas zu stark gehört", sagt ein Währungshüter. Das sei unter Lagarde nicht zu erwarten. "Sie hört mehr auf Experten." Lagarde ist anders als Draghi, der an der US-Eliteuniversität MIT mit einer Arbeit über ökonomische Theorie promovierte, keine gelernte Volkswirtin, sondern Juristin. Wenn die Französin im November ihr Amt antritt, werden mit der Präsidentin und dem Vize-Präsidenten beide Top-Positionen in der Notenbank mit ehemaligen Politikern besetzt sein. Vizepräsident Luis De Guindos war vorher Wirtschaftsminister in Spanien. Daher wird sich Lagarde aus Sicht vieler Fachleute in der Geldpolitik womöglich stärker als Draghi auf die Expertise von EZB-Chefökonom Philip Lane verlassen. Der Ire Lane sei im sechsköpfigen EZB-Direktorium künftig womöglich der "einzige ausgebildete Ökonom", sagte Volkswirt Martin Moryson von der Deutsche-Bank-Fondstochter DWS.
rtr