Clinton warf Trump in Philadelphia vor 33.000 Anhängern vor, die Gesellschaft zu spalten. Die Amerikaner müssten entscheiden, in welchem Land sie leben wollten. "Wir glauben an ein Amerika der Hoffnung und Großherzigkeit, nicht eines der Ausgrenzung." Flankiert wurde die 69-Jährige von ihrem Ehemann, Ex-Präsident Bill Clinton, und ihrer Tochter Chelsea. Barack und Michelle Obama warben eindringlich für Clinton, ebenso wie Bruce Springsteen. Der Rockstar spielte an dem symbolträchtigen Ort, an dem einst die Unabhängigkeitserklärung und die Verfassung der Vereinigten Staaten unterzeichnet wurden, etwa eine viertel Stunde einige seiner Lieder und rief dazu auf, zur Wahl zu gehen. Wenig später präsentierte Clinton mit Jon Bon Jovi und Lady Gaga in North Carolina erneut ein Star-Aufgebot an Unterstützern.
Trump sagte auf einer Kundgebung am Montagabend im umkämpften Bundesstaat New Hampshire, wo er den Auftakt seiner Siegesserie bei den parteiinternen Vorwahlen um die Kandidatur der Republikaner gefeiert hatte: "Morgen wird die amerikanische Arbeiterschicht zurückschlagen." Clinton nannte der politische Quereinsteiger, der noch nie ein öffentliches Amt innehatte, eine "Heuchlerin". Für die Wähler gebe es nur eine Frage: "Wollt Ihr, dass Amerika von einer korrupten politischen Klasse regiert wird, oder wollt ihr, dass Amerika wieder vom Volk regiert wird?"
HOHE WAHRSCHEINLICHKEIT FÜR CLINTON-SIEG
Einen ersten kleinen Erfolg feierte Clinton zum Auftakt der Wahl im winzigen Ort Dixville Notch im Bundesstaat New Hampshire. Dort wurde das Ergebnis bereits kurz nach Mitternacht bekanntgegeben. Clinton erhielt vier Stimmen, Trump kam Medienberichten zufolge auf zwei.
Einer Reuters/Ipsos-Umfrage zufolge liegt die Wahrscheinlichkeit eines Clinton-Siegs bei 90 Prozent. Sie kann demnach damit rechnen, in den einzelnen Bundesstaaten insgesamt 303 Wahlleute zu erobern. 270 sind für einen Sieg nötig. Sollte sie tatsächlich gewinnen, wäre sie die erste Frau, die als Präsidentin ins Weiße Haus einzieht. Allerdings gibt es in diesem Jahr eine ungewöhnlich hohe Anzahl an Bundesstaaten, in denen das Rennen immer noch auf der Kippe steht. Trumps Mitarbeiter gaben sich denn auch allen Umfragen zum Trotz zuversichtlich. "Wir haben einen enormen Auftrieb in den vergangenen Tagen gesehen", sagte der stellvertretende Wahlkampfleiter Dave Bossie.
Trumps Chancen hängen laut der Reuters-Erhebung vor allem von seinem Abschneiden in den so genannten Swing States Florida, Michigan, North Carolina, Ohio und Pennsylvania ab. Brenzlig wird es für ihn, wenn er in zwei der drei Bundesstaaten Florida, Michigan und Pennsylvania verlieren sollte, denn dort geht es um vergleichsweise viele Wahlleute. Für einen Sieg des Geschäftsmanns müssen mehr weiße Anhänger der Republikaner wählen gehen als 2012. Zugleich muss der 70-Jährige darauf hoffen, dass weniger Afroamerikaner zur Wahl gehen und die Zahl der Wähler mit lateinamerikanischen Wurzeln weniger stark steigt als bislang erwartet. Umgekehrt könnten genau die Stimmen der Minderheiten das Zünglein an der Waage für einen Clinton-Sieg sein. Trump kann nach seinen Tiraden gegen Einwanderer und seiner Forderung nach dem Bau einer Mauer an der Grenze zu Mexiko kaum auf deren Unterstützung zählen.
TRUMP IST GUT FÜR EINE ÜBERRASCHUNG
Doch wenn die vergangenen Monate eines gezeigt haben, dann dass der Geschäftsmann stets für eine Überraschung gut ist. "Ich bin ein bisschen abergläubisch", sagte er im Morgenmagazin des Senders Fox, um dann darauf zu verweisen, dass er viele Vorwahlen gewonnen habe.
Mehrfach sah es so aus, als ob das Rennen gegen Clinton für ihn gelaufen sei - etwa nachdem ein Video aus dem Jahr 2005 mit sexistischen Äußerungen auftauchte. Dennoch kämpfte er sich zurück, wobei er davon profitierte, dass auch Clinton alles andere als eine beliebte Kandidatin ist. In der Schlussphase des Wahlkampfs kochte erneut die so genannte E-Mail-Affäre hoch, die Clintons Gegner gerne als Beleg für deren Geheimniskrämerei ins Feld führen. Zwar wurde sie vom FBI entlastet. Das änderte aber nichts daran, dass viele Amerikaner Clinton als Vertreterin des politischen Establishments sehen, der man nicht vertrauen könne.
Wer auch immer gewinnt, auf den nächsten Präsidenten kommt die Herkules-Aufgabe zu, das zutiefst gespaltene Land wieder zu einen. Eine erste Bewährungsprobe könnte sich noch in der Nacht zum Mittwoch (MEZ) ergeben, falls bis dahin wie erwartet das Ergebnis feststeht. Sowohl Clinton als auch Trump planen potenzielle Siegesreden in New York - kaum zwei Kilometer voneinander entfernt.
rtr