Die Chemiebranche zählt zu den Sektoren mit den größten Emissionen des klimaschädlichen Gases Kohlendioxid. Covestro, die ehemalige Chemiesparte des Leverkusener Bayer-Konzerns und seit März 2018 im DAX gelistet, gibt Gas beim klimafreundlichen Umbau. Ab 2024 will der Kunststoffhersteller für sein weltweites Produktionsnetzwerk jährlich 100.000 Tonnen grünen Wasserstoff einkaufen, um mit regenerativen Energien die Vorprodukte für Hart- und Weichschaumstoff zu erzeugen. Der Vertrag mit der australischen Firma Fortescue Future Industries wurde kürzlich unterschrieben. Covestro kann es sich leisten. Im vergangenen Jahr lief es für die Leverkusener besonders gut.

Euro am Sonntag: Herr Toepfer, trotz der Belastung durch hohe Preise für Energie und Rohstoffe hat Covestro 2021 seine Prognosen mehrfach erhöht. Wie wird das laufende Geschäftsjahr?

Thomas Toepfer: Die Energiekosten werden voraussichtlich weiter steigen oder mindestens auf dem hohen Niveau bleiben. Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir höhere Kosten auch 2022 gut weitergeben können. Wir erwarten eine starke Nachfrage, da wir ganz wesentliche Trends bedienen. So liefern wir Schaumstoffe und Produkte zur Gebäude-Isolierung, die auch politisch gewollt ist, um bei CO2-Neutralität schneller voranzukommen. Darüber hinaus liefern wir Leichtbaumaterialien für Elektro- und Hybridfahrzeuge.

Analysten trauen Covestro für 2022 und 2023 im Schnitt nur moderate Zuwächse bei Umsatz und Gewinn zu.

Wir sehen große Wachstumspotenziale für 2022 und 2023 und gehen davon aus, dass wir während der nächsten Jahre im Vergleich zur Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts deutlich stärker zulegen werden. Schwenkt die Autoindustrie, mit der wir rund ein Fünftel des Umsatzes einfahren, im zweiten Halbjahr auf den Erholungspfad ein, wäre das ein zusätzlicher positiver Faktor.

Wie ordnen Sie das Jahr 2021 ein?

Natürlich gab es mit den hohen Preisen bei Rohstoffen und Energie Herausforderungen. Allerdings war die Nachfrage nach unseren Produkten so hoch, dass wir nahezu über das gesamte Jahr ausverkauft waren. Kostensteigerungen konnten wir über höhere Preise weitergeben. Die finalen Ergebnisse veröffentlichen wir am 1. März. Unsere Prognosen mit 3,0 bis 3,2 Milliarden Euro operativem Gewinn (Ebitda) kann ich bestätigen. Gegenüber dem Vorjahr wäre das eine Verdopplung des Ertrags.

Sind Aktienrückkäufe jetzt ein Thema?

Nein. Das hat derzeit keine hohe Priorität. Vielmehr möchten wir unsere Aktionärinnen und Aktionäre entsprechend am Konzernerfolg beteiligen. Wir haben unsere Dividendenpolitik modifiziert und schütten nun 35 bis 55 Prozent des Jahresüberschusses aus. In guten Jahren wie 2021 haben wir so die Möglichkeit, mehr auszuschütten. Ich hänge die Erwartungen nicht zu hoch, wenn ich sage, dass die Dividende pro Aktie für 2021 die höchste sein wird, die Covestro bisher gezahlt hat. Es wird für unsere Aktionärinnen und Aktionäre eine sehr attraktive Dividendenrendite sein.

Warum bewältigt Covestro höhere Kosten besser als andere Chemiekonzerne?

Anders als viele Konkurrenten fertigen wir einen großen Teil der Vorprodukte selbst und müssen deshalb nur gezielt einzelne Rohstoffe einkaufen.

Christian Kullmann, Vorstandsvorsitzender von Evonik und Chef des Branchenverbands VCI, sagte, dass der Effekt der Energiepreise auf die Lieferketten 2021 so hoch war wie seit Gründung der Bundesrepublik nicht mehr.

In der Logistik sind wir besser positioniert als einige Konkurrenten. Wir produzieren global in den Regionen jeweils für den Bedarf vor Ort. Die Verschiffung von Produkten und Vorprodukten über Ozeane trifft uns deshalb weniger stark.

Bei den umsatzstarken Vorprodukten für Weichschaumstoffe (TDI) und Hartschaumstoffe (MDI) in Covestros Massengeschäft Performance Materials gehen während der nächsten Jahre keine zusätzlichen Fabriken an den Start. Wie wirkt sich das auf die Preise aus?

Für die nächsten fünf Jahre erwarten wir, dass die Nachfrage bei TDI und MDI deutlich stärker zulegen wird als die Kapazitäten. Damit sollte sich die Auslastung der Industrie weiter deutlich erhöhen. Wir erwarten also positive Effekte auf Nachfrage und Preise.

Wegen der großen Schwankungen im Geschäft aufgrund der Pandemie und der Energie- und Rohstoffkosten wechselte Covestro von einer starren Planung zu Szenarien. Warum?

In einem sehr dynamischen Umfeld sind detaillierte Planungen mit mehreren Monaten Vorlauf nicht optimal. Um Trends genauer zu erfassen, planen wir nun kurzfristig mit rollierenden Szenarien, also Annahmen, die im Zuge der Entwicklungen angepasst werden. Auch deshalb konnten wir 2021 unsere Prognosen drei Mal in Folge erhöhen.

Was bedeutet kurzfristig?

Die internen Prognosen werden weiter auf Jahresbasis erstellt. Wichtige Parameter werden alle zwei bis drei Monate überprüft und wenn nötig angepasst.

Covestro war 2021 während der meisten Zeit ausverkauft. Wie werden nun zusätzliche Kapazitäten mobilisiert?

In der Produktion und Lieferung gab es 2021 auch technische Schwierigkeiten. So etwa der Wintersturm Uri in Texas im Februar. Allein dieses Ereignis hat uns einen Prozentpunkt Wachstum gekostet. Andere Stillstände schlugen mit weiteren zwei Prozentpunkten zu Buche. Zudem wurden Vorräte aufgestockt, um Engpässe in Lieferketten zu vermeiden. Wir gehen davon aus, dass sich vieles davon in diesem Jahr auflösen oder nicht wiederholen wird. Allein diese Aufholeffekte sollten schon für ein deutliches Wachstum ausreichen.

Performance Materials liefert rund die Hälfte des Erlöses. Die Spezialchemie Solutions & Specialties wird durch Zukäufe ausgebaut. Spezialchemie ist wegen der höheren Margen ein starker Branchentrend. Ist der hohe Erlösanteil des Massengeschäfts ein Handicap?

Nein. In der neuen Struktur werden die beiden Bereiche unabhängig voneinander und unterschiedlich geführt. Das war notwendig, damit sich beide Segmente optimal entfalten können. Bei Performance Materials ist die Effizienz in der Produktion der entscheidende Faktor, weil wir dort den Preis für die Produkte nur sehr eingeschränkt beeinflussen können. Bei Solutions & Specialties orientiert sich die Entwicklung der Produkte stark an den Bedürfnissen des jeweiligen Kunden. Hier ist die Entwicklung spezieller Lösungen gefragt. Genauso wichtig sind Vertrieb und Vermarktung. So können wir hier die Preise und den Absatz wesentlich prägen.

Wie stark sind die Bereiche auf der Produktebene vernetzt?

Die Grundchemie ist gleich. In Bezug auf den chemischen Hintergrund ist es deshalb ein homogenes Portfolio. Beide Segmente zu haben, liefert hohe Synergien. Ohne Performance Materials wäre die Spezialchemie weniger profitabel.

Der größte Zukauf, die Übernahme der Beschichtungssparte Resins & Functional Materials (RFM) des niederländischen Konzerns DSM für 1,6 Milliarden Euro im Pandemiejahr 2020 ist gut gelungen. Die Verschuldung blieb niedrig. Traut sich Covestro nun weitere Zukäufe in ähnlicher Größenordnung zu?

Aktuell ist nichts Konkretes in Sicht. Wir sind sehr selektiv. Die Synergien eines Zukaufs müssen uns und den Markt überzeugen. RFM ist die richtige Ergänzung zu einem optimalen Zeitpunkt. Wir werden für 2021 durch die Integration höhere Synergien abliefern als die in Aussicht gestellten 20 Millionen Euro. Es war wichtig zu zeigen, dass wir größere Firmen integrieren können. Das ist die Basis für weitere ähnliche Zukäufe.

Trotz Wachstum sollen die Kosten bis Ende 2023 stabil bleiben. Wie geht das?

Wir machen Prozesse durch mehr Digitalisierung effizienter und verbessern so auch die Verfügbarkeit der Anlagen. Das sind die ganz großen Hebel. Energiepreise machen nur etwa ein Zehntel der Gesamtkosten aus. Ich bin zuversichtlich, dass wir auch im gegenwärtigen Umfeld unser Ziel, die Kosten konstant zu halten, erreichen werden.

Covestro will für alle Prozesse eine Kreislaufwirtschaft, die bei der Herstellung beginnt und mit der chemischen Wiederverwertung der Produkte am Ende ihrer Verwendung den Kreis schließt. Was ist der Antrieb dafür?

Wenn wir als Chemieunternehmen in der Gesellschaft langfristig eine wesentliche Rolle spielen wollen, muss es uns gelingen, Kreisläufe zu etablieren und die fossilen Rohstoffe zu ersetzen. Wir können biobasierte Rohstoffe schon jetzt in der Produktion nutzen, ohne die Anlagen umzubauen.

Dieser Part wird also schon umgesetzt?

Ja. Covestro hat 2021 mehr als 25.000 Tonnen alternative Rohstoffe mit reduziertem CO2-Fußabdruck eingesetzt. Dass die Prozesse funktionieren, haben wir damit im Tausend-Tonnen-Maßstab bewiesen. Die Energie dafür liefern langfristig Solar- und Windparks sowie Wasserstoff. Die Märkte mit Produkten, die gut nachgefragt werden und attraktive Margen haben, sind da. Sie müssen via Partnerschaften ausgebaut werden.

Wann erreicht Covestro sein Ziel, alle Produkte zu 100 Prozent aus biobasierten Rohstoffen herzustellen?

Das hängt sehr stark davon ab, wie schnell es gelingt, die Märkte für die Rohstoffe und für die Produkte in ausreichenden Größen aufzubauen. Ich bin sicher, dass wir sehr schnell eine Verdopplung und Verdreifachung der Mengen sehen werden, die wir 2021, im ersten Jahr der Umstellung, erreicht haben.

Evonik erwartet ab 2030 rund 350 Millionen Euro zusätzlichen Umsatz durch Kreislaufwirtschaft. Bei einem zweistelligen Milliardenumsatz ist diese Größenordnung überschaubar.

Wir wollen Covestro vollständig auf die Kreislaufwirtschaft ausrichten. Die eine Milliarde Euro, die wir über zehn Jahre verteilt investieren, soll genau dafür genutzt werden. Wir wollen etwa die Transformation hin zu CO2-neutralen Produkten voranbringen und intelligentes chemisches Recycling aufbauen. Das herkömmliche mechanische Recycling, also das Zerkleinern von Kunststoffen, wird schnell seine Grenzen erreichen. Die Produkte bestehen aus verschiedenen Stoffen und nicht alles kann zerkleinert werden. Die Wiederverwertung über chemische Prozesse ist den bisherigen Methoden überlegen.

Wie geht chemisches Recycling?

Um Kunststoffe wieder als Rohstoffe einsetzen zu können, werden sie in kürzere Molekülketten zerlegt. Das haben wir 2021 in unserer Pilotanlage in Leverkusen für TDI, also Weichschaum, gezeigt. In die Weiterentwicklung und Skalierung dieser Technologien wird deshalb ein Teil der Investition in Höhe von einer Milliarde Euro über einen Zeitraum von zehn Jahren fließen.

Ist Deutschland als Standort für Ihre Industrie ausreichend attraktiv?

Wir stehen zu unseren Standorten in Deutschland und in Europa. Mit den neuesten Technologien sind sie zukunftssicher. Bei Kosten und Effizienz ist Covestro in Europa eines der führenden Unternehmen. Aus dem produktionstechnisch günstigsten Standort die Welt zu beliefern, funktioniert in der Chemieindustrie nicht. Trotzdem ist es wichtig, in einer Region im Zusammenhang mit dem Absatz der Produkte dort die Kostenführerschaft zu behalten.
 


INVESTOR-INFO

Covestro

Unterschätzter Primus

Covestro ist globale Nummer 1 bei Polycarbonaten und zählt bei Hart- und Weichschaumstoffen weltweit zu den Top 3. Produkte für Anforderungen in verschiedenen Industrien liefern mehr als die Hälfte des Umsatzes. Für 2021 werden 15,3 Milliarden Euro erwartet, ein Plus von knapp 43 Prozent. Der operative Gewinn (Ebitda) könnte sich auf 3,2 Milliarden verdoppeln. Die Dividende schätzen Analysten auf 2,40 Euro pro Aktie, im Vorjahr waren es 1,30 Euro. Günstiger Zykliker.

Vita:

Strategie & Zahlen

Thomas Toepfer ist seit April 2018 Finanzvorstand und seit Januar 2019 auch Arbeitsdirektor von Covestro. Darüber hinaus ist er für das Geschäft in den USA und in China verantwortlich. Toepfer wurde 1972 in Hamburg geboren, studierte und promovierte an der Wissenschaftlichen Hochschule für Unternehmensführung (WHU) in Koblenz. Danach arbeitete Toepfer für die Unternehmensberatung McKinsey, den Kaufhauskonzern Arcandor (ehemals Karstadt) sowie den Lagerlogistiker Kion in Wiesbaden, bevor er 2018 zu Covestro wechselte.