Was Daimler-Chef Dieter Zetsche als Attraktion auf der weltweit größten Automesse IAA in Frankfurt vorschwebt, hat nicht mehr viel mit klassischer Autopräsentation zu tun. "MeConvention" heißt das Format, bei dem alles schön mit Anglizismen garniert ist. Über 150 "Top-Speaker" aus der digitalen Welt werden auftreten. "Talks & Expert Panels" über das Leben in der Zukunft ergänzen die "Road Map". Auch die Wettbewerber hissen die Flagge im digitalen Kosmos. So lud Audi zum "Genie-Gipfel" nach Ingolstadt. Gemeinsam mit der Technologie-Fibel "Wired" brachte man Vordenker wie Wikipedia-Gründer Jimmy Wales in die bayerische Provinz.
Der Grund für die untypischen Präsentationen: Spätestens seit dem Dieselskandal und den Kartellvorwürfen mehren sich die Zweifel an Deutschlands Schlüsselindustrie. Die Autobosse sehen sich an den Pranger gestellt. Die Branche habe sich auf den Lorbeeren ausgeruht und den Trend zur Elektromobilität verschlafen.
Diese Vorwürfe sind - bei allen Fehlern, die sich die Manager ankreiden lassen müssen - stark vereinfacht dargestellt. Denn es ist keineswegs so, dass die deutschen Autokonzerne nur PS-Protze entwickeln, produzieren und verkaufen. Und selbst die werden allen Buhrufen zum Trotz noch mindestens zwei Jahrzehnte auf den Straßen fahren, ob als Diesel, Benziner oder, zeitgemäßer, als Hybride.
Unterdessen hat das Thema E-Mobilität längst Fahrt aufgenommen. Darum zeigt die deutsche Autogilde eine breite Palette an Stromern auf der IAA. Mercedes kommt mit dem EQ C, einem Elektro-SUV, der den Start einer Modellreihe der neuen Submarke E markiert. BMW bringt eine elektrische Variante des 3ers - ein Konkurrenzfahrzeug zum Tesla Model 3, dazu einen Elektro-Mini und die Neuauflage des i3 mit 50 Prozent mehr Reichweite. Audi fährt mit dem e-tron vor, der im Spätsommer 2018 mit Reichweiten von bis zu 500 Kilometern punkten will, ebenso mit einer Studie eines E-SUV-Coupé.
Dass deutsche Autobauer die Entwicklung beim Thema E-Autos nicht komplett versäumt haben, belegt auch die Statistik des Deutschen Patentamts 2016: Beim Thema Elektroantrieb stieg die Zahl der Patentanmeldungen um ein Fünftel. Unternehmen mit Sitz in Deutschland steigerten sich um 46,5 Prozent. Und: Deutsche Hersteller sind laut Electric Vehicle Index (EVI) von McKinsey mit 23 Prozent die zweitgrößten Produzenten von Elektrofahrzeugen. Allerdings fährt China mit 43 Prozent mit Abstand vorne weg.
Bei der Marktdynamik liegt China auch vorn: Fast die Hälfte der 2016 weltweit 743 000 neu zugelassenen E-Fahrzeuge entfiel auf China (352 000 Einheiten). Der Markt wuchs 2016 um 69 Prozent, während in Europa nur sieben Prozent mehr Zulassungen zu verzeichnen waren (202 000 E-Autos). Die USA kamen auf 159 000 E-Autos - ein Plus von 37 Prozent.
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Shanghai und der Smog-Faktor
Das Engagement Chinas hat einen guten Grund: Fährt man durch Metropolen wie Shanghai, weiß man, dass Stuttgart nicht die schmutzigste Stadt der Welt ist. Darum plant die Administration, via E-Auto-Quote den Smog aus den Städten zu vertreiben. BMW, Audi, Mercedes und Co rüsten die Produktion dafür.
So kann BMW laut Produktionsvorstand Oliver Zipse im Werk Shenyang problemlos E-Antriebe vom Band laufen lassen. Doch bei allem ökologischen Tun ist auch klar, dass der Skandal um die manipulierten Modelle dem Image der deutschen Vorzeigebranche geschadet hat. Das schwächt in einer Zeit, in der es für Volkswagen und Co um die Neuerfindung ihres Geschäftsmodells geht - ausgelöst durch ein neues gesellschaftliches Verständnis (Themen wie Shared Economy oder Verstädterung). Das erfordert andere Lösungen als Fahrzeuge auf vier Rädern - und ruft die IT-Player auf den Plan.
"Die Themen, die die Branche in den nächsten Jahren bestimmen werden, sind aus unserer Sicht Elektromobilität, autonomes Fahren, Digitalisierung und Mobilitätsdienstleistungen", zählt Felix Mogge auf, Senior Partner bei Roland Berger Consultants. Gleichzeitung kann es sich "kein Anbieter leisten, heute das Kerngeschäft zugunsten möglicher Zukunftstechnologien zu vernachlässigen", sagt der Experte zum Spagat, den die Hersteller und Zulieferer schaffen müssen.
Um die IT-Konkurrenz auf Abstand zu halten - vor allem die kapitalstarken Riesen wie Alphabet und Apple -, rüsten die Autobauer bei den Mobilitätslösungen auf. Laut DB Research werde man "vollautomatisierte Fahrzeuge in den nächsten Jahren in Richtung Serienreife vorantreiben". Außerdem zeigten sich die deutschen Automobilhersteller sehr kooperationsfreudig. So haben Audi, BMW und Daimler 2015 gemeinsam den Online-Geodaten- und Kartendienstleister Here übernommen. Zudem wurde 2016 die 5G Automotive Association gegründet - hier kooperieren die drei deutschen Autohersteller mit Ericsson, Huawei, Intel, Qualcomm und Nokia, um Fortschritte beim vernetzten Fahrzeug zu erzielen. BMW ist derweil in China eine Kooperation mit der Kommunikationsplattform WeChat eingegangen, während Mercedes-Benz Vans mit dem US-Start-up Via zusammenarbeitet - einem Konkurrenten der Mitfahr-App Uber.
Natürlich wird das die neuen Marktteilnehmer nicht abhalten. Sie stellen überdies eine neue Zielgruppe dar, weil die Massenproduktion von Autos nicht so einfach zu kopieren ist. "In der Zukunft könnte es sein, dass die Hersteller einer Reihe von Großabnehmern gegenüberstehen, nennen wir sie beispielhaft Uber oder Google. Vielleicht gibt es dann einige, die wir heute noch gar nicht kennen. Die sagen dann: Ich brauche für meinen Mobilitätsdienst in Shanghai 150 000 Fahrzeuge. Ich spezifiziere jetzt, wie das Fahrzeug aussieht, liefere noch einen Teil der Kernfunktionalität und das schreibe ich aus", sagt Experte Mogge.
Urbanität versus Landlust
Das bedeutet jedoch nicht, dass die Autohersteller zur Werkbank verkommen. Mogge: "Die Welt wird nicht nur aus Robo-Taxis bestehen. Das stellt hohe Anforderungen an die Infrastruktur bis hin zur kritischen Masse an Nutzern. Das deckt den Bereich der Städte ab. In den ländlichen Regionen wird es auch über das Jahr 2045 noch ein konventionelles Automobilgeschäft geben." Auch die Nachfrage nach Premiumleistungen innerhalb des Mobilitätsdienstleistungsspektrums dürfte weiter bestehen. "Das halten auch wir für eine realistische Vision", sagt man bei Roland Berger. Dazu kommt das Segment "digitale Ökosysteme", weil bis in drei Jahren alle Neufahrzeuge mit dem Internet verbunden sein werden. Da ist ein Umsatzvolumen von 500 Milliarden Dollar im Jahr 2025 drin. Apps wie MercedesMe oder BMW Connected sind jetzt schon Beispiele dafür.
Nach Prognose der Vereinten Nationen werden 2050 fast 70 Prozent der Weltbevölkerung im urbanisierten Umfeld leben - und die wollen mobil sein. Davon werden dann sicher deutsche Hersteller profitieren.
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Die Börsen-Ampel steht noch auf Gelb
Eine dicke Bremsspur zieht sich durch die Charts von BMW, Daimler und VW. Das Auto-Trio verlor seit dem Bekanntwerden der Abgasmanipulationen deutlich an Wert. Und inzwischen weitete sich die Dieselaffäre ja sogar noch mit dem Kartellskandal aus. Diese brisante Mischung hat uns in Ausgabe 30/2017 dazu veranlasst, unsere Kaufempfehlungen für die "Big Three" vorerst einzukassieren.
Hoffnung geben allerdings die jüngsten Bemühungen der Konzerne hinsichtlich alternativer Antriebe. Kurz vor der IAA meldete sich BMW-Chef Harald Krüger angriffslustig zu Wort: "Bis 2025 werden wir 25 elektrifizierte Modelle anbieten, zwölf davon werden vollelektrisch sein." Aktuell verfügen die Münchner über neun Modelle mit Stromanschluss - im Zuge möglicher Elektroquoten in China sowie mit Blick auf den Dieselskandal eine löbliche Strategie. Bereits 2017 könnte es BMW gelingen, erstmals mehr als 100 000 Elektroautos zu verkaufen.
Noch ist es zwar zu früh, bei den Auto-Aktien auf breiter Basis zum Einstieg zu blasen, aufgrund der günstigen Bewertungsrelationen - KGV von 6,6, KBV von 1,0 sowie eine Dividendenrendite von 4,8 Prozent, sind die BMW-Vorzugsaktien aber ein Investment wert.
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Interview: "Viele Player wollen mitmischen"
BÖRSE ONLINE: Welche Themen sind in der Autobranche entscheidend?
Matthias Kempf: Die Kernfrage ist, wie wir die Emissionen in den Griff bekommen. Emissionsfreie Autos, die im Flottenbetrieb individuelle Mobilitätsanforderungen befriedigen, sind zentral. Es geht um möglichst wenig Standzeit und Leerfahrten. Dafür müssen Autos optimal vernetzt sein und vorausschauend mit ausgeklügelten Algorithmen gesteuert werden. In den kommenden Jahren wird dafür sicher noch ein Fahrer im Auto sitzen, danach können sich diese Flotten autonom in ihrem Umfeld bewegen. Es geht also um E-Mobilität, Connectivity, Sharing, autonomes Fahren und Big Data Analytics.
Wie schnell wird das autonome Fahren zum Geschäftsmodell heranreifen?
Wir sehen zarte Pflänzchen aufkeimen, etwa durch digitale Plattformanbieter wie Uber und Waymo sowie durch innovative Nahverkehrsbetriebe. Gemeinden lassen in Feldversuchen autonome Shuttlebusse verkehren und sammeln damit Erfahrungen. Mit diesem Erfahrungsschatz kann man dann das Gebiet für autonomen Nahverkehr sukzessive ausbauen. Hier ließe sich schon ein profitables Geschäft aufbauen. Für die Autohersteller wird es noch bis 2025 oder 2030 dauern, bis sich hier ein spürbarer Teil des Geschäfts auf das autonome Fahren verlagert. Anders sieht es bei Zulieferern aus, etwa bei Bosch, Continental, ZF oder Mobileye. Sie verbauen schon heute Sensoren und Kameras, die in ähnlicher Form auch in autonomen Autos zu finden sein werden. Hier hat das Geschäft mit der Technologie also schon begonnen.
Könnte die IT-Branche die Autoindustrie ins Abseits drängen?
Die großen, aber auch kleine innovative Player aus der IT-Branche, sind ernsthafte Konkurrenten. Sie agieren viel schneller und beherrschen datengetriebene Geschäftsmodelle aus dem Effeff. Wir beobachten aber, dass sich die klassische Autowelt auf die Mitspieler einstellt und mit Kooperationen oder dem Zukauf vielversprechender Start-ups Boden gutmacht. Weltweit werden zudem die meisten Patente zum autonomen Fahren von der klassischen Autowelt gehalten. Unter den Top Ten sind sechs deutsche Firmen. Google ist auf Platz 10.
Kommt eine Übernahmewelle analog zum Kauf von Magneti Marelli durch Samsung?
Konsolidierung ist vor allem im Zuliefererbereich zu beobachten. Bosch trennt sich von der Starter-Anlasser-Sparte, ZF kauft sich Know-how ein. Aber so etwas gehörte schon immer zur Industrie. Spannend ist, was die Großen der IT-Branche unternehmen. Ihre Kriegskassen sind voll, dennoch scheint man sich vom Gedanken verabschiedet zu haben, eigene Autos bauen zu wollen. Übernahmen eines Herstellers wird es da also eher nicht geben. Vielmehr sind sie an den Daten der künftigen Nutzer interessiert und werden als Lieferant für Software, künstliche Intelligenz und digitale Geschäftsmodelle zu starken Konkurrenten der Autohersteller - und damit auch zu den Mobilitätsanbietern wie Uber oder Lyft.
Werden als Folge des neuen Mobilitätsverständnisses die Stückzahlen sinken?
Ja, aber noch nicht kurzfristig. Unsere Mobilitätsstudie zeigt für die Fahrzeugproduktion ein Substitutionspotenzial von 23 Millionen Pkw im Jahr 2035 weltweit. Weil die Weltbevölkerung bis dahin aber stark wächst, werden nach unseren Prognosen 2035 immerhin knapp 125 Millionen Autos produziert. 2015 lag diese Zahl noch bei 91,5 Millionen Pkw. Die neue Mobilität verlangsamt das Stückzahlwachstum also, ein Wachstum bleibt dennoch erhalten.
Zur Person: Matthias Kempf (43) ist seit 2011 Gründungspartner bei Berylls Strategy Advisors. Er ist Experte für unter anderem Mobilitätsdienstleistungen.