Doch inzwischen wirkt der Dax recht altbacken. Zu viele klassische Branchen ("Old Economy") wie Autos, Banken oder Versicherungen und zu wenig "New Economy" wie etwa die Informationstechnologie. Zudem gab es zuletzt viel Wirbel um das Skandal-Unternehmen Wirecard, das erst nach seiner Insolvenz aus dem deutlichen Leitindex geflogen ist. Nun sollen neue Anforderungen für mehr Qualität und Breite sorgen, doch auch daran entzündet sich Kritik von Vermögensverwaltern und Marktexperten.
1987 hatten sich die Dax-Erfinder auf die Zahl von 30 Mitgliedern geeinigt. So viele hatten auch der Index der "Börsen-Zeitung" als Vorläufer des Dax und das wohl bekannteste Börsenbarometer der Welt, der Dow Jones Industrial Average (Dow Jones 30 Industrial). "Der Dow ist eine Art Urmeter, an dem andere Indizes geeicht werden", erinnerte sich einer der "Väter" des Dax, der Redakteur Frank Mella.
In den folgenden drei Jahrzehnte hatte der Dax einen großen Anteil daran, den aktienmuffeligen Deutschen die Kapitalanlage wenigstens etwas schmackhaft zu machen, und Fondsmanager haben sich gern an dem Index messen lassen.
Aber auch Rückschläge gab es. Gestandene Aktionäre erinnern sich an die Ausgabe der "Volksaktie" Deutsche Telekom, die unmittelbar nach ihrem Börsengang im November 1996 in den Dax stürmte und Anfang der 2000er-Jahre auch wegen vieler Managementfehler abstürzte. In jüngster Zeit schockten unter anderem der Diesel-Skandal aber vor allem die spektakuläre Pleite von Wirecard die Aktionäre.
Auch um eine erneute Image-Katastrophe wie Wirecard zu verhindern, hatte die Deutsche Börse bereits im Sommer die Regeln angepasst. Nun plant sie noch tiefgreifendere Veränderungen, denn auch anderweitig gibt es Kritik. So monieren viele Experten, dass mit dem Essenslieferdienst Delivery Hero ein chronisch verlustträchtiges Unternehmen in die erste deutsche Börsenliga aufsteigen konnte.
Geht es nach dem Willen des Indexanbieters sollen Dax-Kandidaten künftig im operativen Geschäft über mindestens zwei Jahre hinweg schwarze Zahlen geschrieben haben. Um die deutsche Wirtschaft breiter abzubilden, soll zudem die Zahl der Dax-Unternehmen von 30 auf 40 steigen. Von den klassischen Auswahlkriterien würde dem Vorschlag einer Expertenkommission zufolge zum Beispiel nur der Börsenwert (der frei handelbaren Aktien) übrig bleiben, der Börsenumsatz hingegen würde wegen seiner begrenzten Aussagekraft keine Rolle mehr spielen.
Noch bis zum 4. November könnten sich Marktteilnehmern zur Reform des Leitindex äußern. Das Ergebnis soll voraussichtlich am 23. November präsentiert werden.
Die Aufstockung des Dax um 10 Mitglieder könnte zwar laut Marktanalyst Robert Halver von der Baader Bank für etwas mehr Unruhe sorgen, da nun mit mehr Auf- und Abstiegen zu rechnen sei. Aktuell drohe auch ein Übergewicht von Unternehmen aus der Siemens-Familie (Siemens), da bald neben dem Münchener Mutterkonzern auch dessen Tochter Siemens Healthineers und dessen Beteiligung Siemens Energy im Dax vertreten sein könnten.
Unter dem Strich aber würden die Reformen Halver zufolge den Leitindex attraktiver machen, da dann "nicht nur alte Schlachtschiffe, sondern auch andere Unternehmen im Dax sein werden, die fundamental erste Sahne sind". Dann würden auch mehr ausländische Investoren bei den Dax-Unternehmen zugreifen und so die Kurse antreiben.
Nach aktuellen Stand können sich zum Beispiel der Duftstoff- und Aromenhersteller Symrise, der Online-Modehändler Zalando, der Pharma- und Laborausrüster Sartorius (Sartorius vz), das Biotechnologieunternehmen QIAGEN und die Immobiliengesellschaft LEG (LEG Immobilien) Hoffnungen auf einen Aufstieg in eine erweiterte erste Börsenliga machen.
Dieter Helmle, Vorstand des Frankfurter Vermögensverwalters Source For Alpha, aber sieht die Reformvorschläge eher kritisch: "Wenn der Börsenumsatz kein Kriterium sein sollte, dann könnten Aktien mit geringen Umsätzen aufgenommen werden, wodurch die Kurse dieser Titel von großen Fonds extrem beeinflusst werden könnten."
Ganz und gar nicht einverstanden mit den Vorschlägen ist Thomas Wüst, Geschäftsführer der Valorvest Vermögensverwaltung in Stuttgart: "Was die Deutsche Börse hier als Dax-Reform verkauft, ist mir schlichtweg zu halbherzig. Eingriffe in die bestehende Systematik der Dax-Familie sind meiner Meinung nach nur ein Investoren-Placebo." Zudem sei der Kollateralschaden, der aus einer Verringerung des MDAX um seine 10 größten Werte resultiere, ein zu hoher Preis, weil der Mittelwerte-Index dadurch etwa ein Drittel seiner Marktkapitalisierung verlieren würde.
Laut Wüst geht es "doch vor allem darum, Investoren, aber auch den Unternehmen zu signalisieren, dass man aus den Skandalen der Vergangenheit gelernt hat und sich nun verstärkt auf das Thema Nachhaltigkeit konzentriert". Dafür hat der Vermögensverwalter einen auf den ersten Blick ungewöhnlichen Vorschlag: "Es wäre es viel zeitgemäßer, wenn künftig an der Dax-Tafel in Frankfurt statt des alten Dax 30 künftig der Dax 50 ESG angezeigt und dieser Nachhaltigkeitsindex der neue Leitindex der Deutschen Börse werden würde."
Der Dax 50 ESG bildet die Kursentwicklung der 50 größten und liquidesten Aktien auf dem deutschen Markt ab, die auf der Grundlage der sogenannten ESG-Kriterien (Umwelt, Soziales und Unternehmensführung) besonders nachhaltig sind. Und nachhaltige Geldanalgen stehen aktuell nicht nur bei vielen Investoren zunehmend hoch im Kurs, sondern werden auch aus regulatorischer Sicht immer wichtiger: Die Europäische Union will, dass Finanzprodukte künftig nach strikten Kriterien nachweisen müssen, wie nachhaltig sie sind.
Damit dürften also auch die Dax-Konzerne bald noch stärker daran gemessen werden, wie sie es mit der Nachhaltigkeit halten. Wenn es aber darum geht, zu bewerten, ob ein Unternehmen durch "sozial-gesellschaftliches" Engagement hervorsticht oder "gut geführt" wird, stößt die klassische Index-Mathematik an Grenzen, weil auf einmal subjektive Einschätzungen gefragt sind. Gleichwohl kann sich auch die Dax-Reformkommission dem Trend nicht gänzlich entziehen: Künftig soll ein potenzieller Kandidat für den Leitindex nicht mehr als zehn Prozent seines Umsatzes mit der Herstellung "umstrittener Waffen" machen.
dpa-AFX