Wu sei ein Unternehmer mit Leib und Seele gewesen, sagt Thomas Stewens, der ihn mehrmals in China besucht hat. "Er hat sogar auf dem Werksgelände gelebt." Stewens arbeitet für die deutsche BankM und hat Ultrasonic 2011 an die Frankfurter Börse gebracht.

Was seitdem passiert ist, hätten sich Krimiautoren nicht besser ausdenken können. Mitte September schlägt Ultrasonic-Finanzchef Clifford Chan Alarm: Wu ist verschwunden. Auch sein Sohn Minghong, der im Vorstand für das operative Geschäft des Schuh-Herstellers zuständig ist, und Großteile des Firmenvermögens sind weg. Den Nomura-Kredit haben die Wus nach Erkenntnissen des Aufsichtsrats in zwei Tranchen abgehoben und auf Konten transferiert, auf die das Unternehmen keinen Zugriff hat. Die Ultrasonic-Aktie rauscht daraufhin in den Keller, die Firma warnt vor einer drohenden Insolvenz. "Das ist eine Katastrophe", sagt Banker Stewens. Er könne es bis heute nicht fassen, dass er sich in Wu so getäuscht habe.

In Deutschland ist der Unmut groß, schließlich ist der Fall Ultrasonic nicht der erste Skandal einer chinesischen Firma, die in Frankfurt gelistet ist. Einige Monate zuvor ist bereits der Chef des Verpackungs-Herstellers Youbisheng Green Paper verschwunden. Das Unternehmen meldet wenig später Insolvenz an. Beim Modehersteller Kinghero hat der Aufsichtsrat den Chef vor Tür gesetzt, weil er Firmenvermögen für private Geschäfte missbraucht haben soll.

Die Skandale belasten das Image der Deutschen Börse, die jahrelang um Firmen aus dem Reich der Mitte geworben hat. Und sie werfen ein Schlaglicht darauf, wie riskant es sein kann, Aktien chinesischer Unternehmen zu kaufen. Deren Vorstände haben in der Volksrepublik große Freiheiten - und können von Aufsichtsräten und Behörden in Deutschland kaum kontrolliert werden. "Wer in solche Finanzvehikel, die in Deutschland kein operatives Geschäft haben, investiert, geht große Risiken ein", warnt Christoph Niering, Insolvenzverwalter von Youbisheng.

Auf Seite 2: "Wachstumsstory par excellence"

"WACHSTUMSSTORY PAR EXCELLENCE"

Der Geschäftsmann Peter Klee aus Berlin ahnt von diesen Risiken nichts, als er vor drei Jahren im Anlegermagazin "Focus Money" über den bevorstehenden Börsengang von Ultrasonic liest. "Eine Wachstumsstory par excellence", heißt es in dem Beitrag. "Denn Chinas Mittelschicht lebt auf immer größerem Fuß, genauer: in Lederschuhen der gehobenen Klasse bis 120 Euro." Dieser Markt wachse jährlich um 40 Prozent. Klee kauft beim Börsengang Ultrasonic-Aktien für 9000 Euro. Das Verhältnis von Aktienpreis und Firmengewinn bei Ultrasonic sei attraktiv gewesen, sagt der 57-Jährige heute. An der Integrität der Wus habe er nicht gezweifelt. "Der Ultrasonic-Chef war schließlich kein Newcomer, sondern seit rund 30 Jahren im Geschäft."

Nach den jüngsten Vorfällen ist Klee entsetzt. "Es ist unglaublich, dass so etwas möglich ist." Seine Ultrasonic-Papiere sind inzwischen nur noch rund 2000 Euro wert. "Ich werde nie wieder chinesische Aktien kaufen", sagt der Geschäftsmann. Zudem hat er die Aktionärs-Vereinigung SdK aufgefordert, aktiv zu werden. "Neben einer Sammelklage sollte man sämtliche Börsengänge von chinesischen Firmen blockieren, bis alle Aktionäre entschädigt worden sind."

Für die Deutsche Börse, die große Hoffnungen auf den asiatischen Markt setzt, ist die Skandal-Serie ein herber Rückschlag. Der Konzern beginnt 2006 mit dem Werben um chinesische Firmen: Regelmäßig organisiert das Unternehmen Konferenzen in Shanghai, bei denen es Maos Nachfahren einen Börsengang im fernen Frankfurt schmackhaft macht. In einer Studie aus dem Jahr 2013 wirbt Deutschlands größter Börsenbetreiber unter anderem damit, dass die Listing-Gebühren im Prime Standard in Frankfurt lediglich 5500 Euro betragen, an anderen Börsenplätzen dagegen 39.100 bis 255.500 Euro. Zudem könne ein Börsengang in der Mainmetropole in weniger als einem Jahr über die Bühne gehen. In ihrer Heimat müssten chinesische Firmen darauf bis zu fünf Jahre warten.

Auf Seite 3: Windeier statt Alibaba

WINDEIER STATT ALIBABA

Zahlreiche Unternehmen folgen dem Ruf, im regulierten Markt in Frankfurt sind aktuell gut zwei Dutzend chinesische Gesellschaften notiert. Die meisten von ihnen sammeln beim Börsengang zwar nicht so viel Geld ein wie erhofft. Das Listing an einer etablierten westlichen Börse ist aber gut für die Reputation und macht es einfacher, Kredite von Banken aus dem In- und Ausland zu bekommen. Die Hoffnung der Deutschen Börse, dass sich mit der Zeit auch chinesische Schwergewichte für ein Initial Public Offering (IPO) am Main entscheiden, erfüllen sich allerdings nicht. Chinas führender Online-Händler Alibaba hat in diesen Tagen in New York den größten Börsengang aller Zeiten gefeiert.

Die Deutsche Börse reagiert auf den Trend bereits im Sommer 2013. Nach einer Neuordnung der Verantwortlichkeiten im Kassamarkt beschließt das Management "aus betriebswirtschaftlichen Gründen" nicht mehr aktiv um Firmen aus China zu werben, wie ein Sprecher erklärt. Mitverantwortlich für die Kehrtwende sind Insidern zufolge auch die Unregelmäßigkeiten bei einigen chinesischen Firmen. "Der entstandene Reputationsschaden steht in keinem Verhältnis mehr zu den geringen Erträgen, die der Konzern durch die China-Börsengänge generiert", sagt eine mit dem Vorgang vertraute Person. "Statt Alibaba und großen Industriekonzernen hat die Frankfurter Börse vor allem kleine chinesische Firmen angezogen, von denen sich einige als Windeier entpuppt haben." Der besonders abstruse Fall Ultrasonic zeige das nun noch einmal eindruckvoll.

Nach dem Börsengang von Ultrasonic im Dezember 2011 läuft es bei der Schuhfirma noch einige Zeit gut. 2012 baut das Unternehmen den Umsatz um 25 Prozent aus, 2013 um weitere zehn Prozent auf 164 Millionen Euro. Unter dem Strich steht im vergangenen Jahr ein Gewinn von 35 Millionen Euro. Dass sich Wus Sohn Minghong plötzlich einen Maserati kauft, irritiert Banker Stewens nur kurzzeitig. "Wir haben schon gefragt: Muss das sein", erzählt der China-Experte der BankM. "Aber wir konnten jetzt nicht annehmen, dass der Größenwahn ausbricht."

Auf Seite 4: Üppiges Essen und viel Alkohol

ÜPPIGES ESSEN UND VIEL ALKOHOL

Auch als Minghong im September 2014 sein Amt als Ultrasonic-Vorstand "aus gesundheitlichen Gründen" niederlegt, schöpft in Deutschland niemand Verdacht. Im Vertrieb habe Minghong mit Geschäftspartnern "lange Abende mit ausgiebigem Essen und Trinken" verbringen müssen und zu wenig geschlafen, erzählen die Chinesen Johannes Mauser, dem deutschen Aufsichtsratschef der Ultrasonic AG, wie dieser berichtet. Die Ärzte hätten Wu Junior deshalb geraten, kürzer zu treten. "Wer in China geschäftlich unterwegs war, weiß, dass üppiges Essen und Alkohol zu den geschäftlichen Gepflogenheiten gehören", erzählt Anwalt Mauser. "Ein Gesundheitsbewusstsein ist nicht ausgeprägt und sicherlich mit ein Grund für die vergleichsweise niedrige Lebenserwartung in China." Dass Minghong abtauchen könnte, sei nicht absehbar gewesen. "Warum sollte er vor seinem Verschwinden noch von seinem Amt zurücktreten?"

Kurz nach dem Rücktritt sind Minghong, sein Vater und große Teile des Firmenvermögens weg. Von Deutschland aus sei das Ausplündern der Ultrasonic-Konten in China nicht zu verhindern, erläutert Mauser. Im Reich der Mitte verfügt laut Gesetz ein Bevollmächtigter ("legal representative") über die Firmenkonten, bei Ultrasonic ist dies Chef Wu. Dieser habe beim Abziehen der Gelder den gesetzlich vorgegebenen "Verfügungsrahmen" überschritten, sagt der Aufsichtsratschef. Die Überweisung auf Privatkonten habe Wu wohl über seine Hausbank veranlasst. Von Wu selbst ist dazu keine Stellungnahme zu erhalten.

Der fehlende Zugriff von Deutschland auf chinesische Firmen hat strukturelle Gründe. Vor einem Börsengang in Frankfurt gründen Unternehmen wie Ultrasonic hierzulande eine Holdinggesellschaft. Diese leitet das beim IPO eingesammelte Geld nach dem Börsengang meist über eine weitere Zwischenholding in Hongkong weiter zur operativ tätigen Firma in China. Geld und Vermögenswerte liegen weit weg. "Aktionäre geben ihr Geld in ein Konglomerat, das drei verschiedenen Rechtsordnungen unterworfen ist", sagt Insolvenz-Experte Niering. "Es ist selbst für Juristen schwer, da durchzudringen." Hinzu kämen Sprachbarrieren und ein völlig anderes Rechtssystem. "Wenn ich Informationen aus China benötige, wende ich mich nicht an die Behörden", sagt der Anwalt. "Man muss sich Informationen auf anderen Wegen beschaffen, durch Ermittlungen vor Ort."

Auf Seite 5: Führe mich nicht in Versuchung

FÜHRE MICH NICHT IN VERSUCHUNG

Für den Kontakt mit Investoren und Aufsichtsräten in Deutschland ist bei den chinesischen Firmen in aller Regel der Finanzvorstand zuständig. Das Unternehmen heuert ihn vor dem Börsengang meist von außen an. In vielen Gesellschaften ist der Finanzchef der einzige, der fließend Englisch spricht und sich mit westlichen Rechnungslegungsstandards auskennt. Den Ton in den Unternehmen geben in aller Regel aber weiter die Firmengründer und deren Familie an. Die Finanzchefs haben oft wenig Einfluss, teilweise können sie nicht mal alle Konten einsehen. Die Mitarbeiter des Verpackungs-Herstellers Youbisheng lassen Finanzchef David Tsui im Sommer nicht mal mehr aufs Firmengelände - er tritt daraufhin frustriert zurück.

Ob die Firmenchefs in China solide wirtschaften oder zwielichtige Geschäfte machen, ist für Außenstehende kaum zu erkennen. Ultrasonic-Aufsichtsratchef Mauser und Banker Stewens sind nach eigenen Angaben regelmäßig bei den Wus in China gewesen und haben die Entwicklung von Ultrasonic vor Ort begutachtet. Auch der Wirtschaftsprüfer Grant Thornton, der sich nicht zu dem Fall äußern will, habe alle Zahlen intensiv geprüft, betont Mauser. Die Deutsche Börse erklärt, sie kontrolliere lediglich den Handel und die Einhaltung von Standards, beispielsweise die fristgerechte Vorlage von Jahresabschlüssen. Über die Börsen-Reife und Qualität von Unternehmen müssten die Investoren entscheiden.

Viele von ihnen werden nach den jüngsten Skandalen wohl die Finger von chinesischen Aktien lassen. "Ich sehe schwarz für chinesische Unternehmen, wenn sie keine Maßnahmen ergreifen, damit so etwas nicht wieder passieren kann", sagt Stefan Otto, der fast jede Hauptversammlung dieser Firmen besucht und für die Investoren-Internetplattform Chinageflüster arbeitet. Behörden und Banken in der Volksrepublik müssten strengere Regeln einführen, "damit die Vorstände nicht mehr in Versuchung geführt werden, mit der vielen Kohle wegzulaufen", fordert Otto. Dass dies in naher Zukunft gelingt, sei jedoch eher unwahrscheinlich.

Die Führung in Peking hat in den vergangenen Jahren bereits einiges getan, damit sich chinesische Unternehmen an die Grundsätze guter Unternehmensführung (Corporate Governance) halten. Regeln alleine dürften das Problem aber nicht lösen, sagt Alan Gey, der Finanzchef des chinesischen Fischverarbeiters Haikui Seafood. "Wir können so lange über Corporate Governance sprechen wie wir wollen, aber am Ende kommt es auf die handelnden Personen an."

Bevor Investoren Geld in chinesische Firmen stecken, müssten sie das Management genau unter die Lupe nehmen, rät Gey, dessen Unternehmen seit 2012 in Frankfurter gelistet ist. Besonderes Augenmerk müsse man darauf legen, ob die Vorstände nebenbei noch andere Geschäfte betreiben. Denn Experten zufolge kommt es bei einigen chinesischen Firmen nur deshalb zu Turbulenzen, weil sich deren Vorstände am Immobilienmarkt verspekuliert haben und kurzfristig Geld aus der Firmenkasse brauchen. In anderen Fällen machten dubiose Geldverleiher Druck, die noch offene Rechnungen mit den Firmenchefs hätten.

Trotz solcher Mafia-Geschichten sei es unfair, alle chinesischen Firmen über einen Kamm zu scheren, sagt Haikui-Manager Gey. "Solche Skandale können auch in anderen Ländern passieren." Sein Unternehmen tue alles, um transparent zu sein. "Wir haben alle Geschäftsberichte pünktlich vorgelegt, veranstalten regelmäßig Telefonkonferenzen und sind bei Fragen von Investoren und Aktionären stets erreichbar", betont Gey. Trotzdem sei auch die Aktie von Haikui Seafood unter Druck geraten, als die Ultrasonic-Affäre publik wurde.

Der in der Zwischenzeit abgesetzte Ultrasonic-Chef Wu ist mittlerweile wieder aufgetaucht und spricht von einem großen Missverständnis. Er habe mit seinem Enkel Urlaub in Hongkong gemacht und sei anschließend zu einem medizinischen Check-Up auf den Philippinen gewesen, erzählt er Reportern der chinesischen Nachrichtenseite Sina. Auf der Reise habe er sein Handy verloren und sei deshalb nicht erreichbar gewesen. Ultrasonic verspricht er, zurückzukehren und die entwendeten Gelder wiederzubeschaffen. Die Aufregung der letzten Tage kann Wu nicht nachvollziehen. "Die finanzielle Situation des Unternehmens ist weiter normal."

Reuters