Wäre allein Politik Bewertungsmaßstab, fielen deutsche Aktien in einen Dauer-Lockdown
Für die Hausse kann man Berlin nun wirklich nicht "verantwortlich" machen. Ohne einen echten Plan und ohne Öffnungsperspektive setzt die Politik den deutschen Michel und besonders Selbständige, den Einzelhandel, Restaurants, Hotels und die Touristik unter Perma-Stress und Existenzangst. Da schaut man geradezu neidisch auf andere Länder wie die USA, die nach anfänglichen Pleiten, Pech und Pannen nun ordentliche Pandemie-Bekämpfung betreiben. Deutsche Gründlichkeit, wo bist du geblieben? Hat man dich etwa exportiert?
Mit Blick auf fastenzeitliche Wahlumfragen findet das Hauen und Stechen nicht nur zwischen, sondern mittlerweile auch innerhalb von Parteien statt. Jetzt hört man, so kann es nicht weitergehen. Doch wird uns nicht mitgeteilt, wie es denn weitergehen soll.
Wenn die Weltkonjunktur lächelt, lacht die deutsche (Export-)Industrie
Zum deutschen Aktien-Glück sind die von der Pandemie besonders betroffenen Dienstleistungsunternehmen kaum börsennotiert. Wir sind Old Economy, bei uns dominiert die Industrie. Ohnehin spielt der deutsche (Absatz-)Standort für unsere konjunkturreagiblen Unternehmen eine immer weniger bedeutende Rolle. Im Gegensatz zum Schreiner, Schneider oder Metzger um die Ecke können sie den Niederungen der Politik entfliehen. Denn unsere Industrie- und Exportwerte sind in der Welt zuhause. Insbesondere in Asien und Amerika klingt die Konjunktur-Musik immer Schalmeien-hafter. Jetzt hat auch noch der Suezkanal, durch den 12 Prozent des Welthandels verlaufen, seinen Lockdown beendet. Und so singen auch die ifo Exporterwartungen mit einem im März erreichten 10-Jahreshoch laut "Halleluja".
Die Zinsangst ist eher theoretischer Natur, vor allem, da die Inflation jede nominale Zinssteigerung auffrisst. Zwar hat sie Steherqualitäten, doch kommt sie deutschen Aktien indirekt zugute. Denn auf unserem Kurszettel befinden sich deutlich weniger hoch bewertete New Economy-Titel als in den USA. So schlägt der vermeintliche Zinshammer bei unseren, weniger teuren konjunkturzyklischen Werten der Old Economy, die oft genug auch noch mit attraktiven Dividendenrenditen ausgestattet sind, weniger zu.
Hinzu kommt ein schwacher Euro, der auf den deutschen Export eine ähnliche Wirkung hat, wie der Steilpass auf den Stürmer vor leerem Tor. Nennen wir es das Glück des Tüchtigen.
So fundamental befruchtet, wurden Corona-Verlierer aus dem DAX zu Konjunkturgünstlingen. Ja, der DAX hat sich vom früheren High Flyer Nasdaq Composite emanzipiert. Und wenn ab September der deutsche Leitindex auf 40 Werte vergrößert wird, wird der Anteil konjunkturabhängiger Aktien vermutlich noch größer.
Im Vergleich liegt der noch konjunkturzyklischere MDAX zurück. Internationale Investoren laben sich zunächst an den Blue Chips bevor sie ans Eingemachte gehen. Doch da unsere Industrieperlen mit phantastischen Patenten und vielfacher Weltmarktführerschaft vor allem in der zweiten Aktien-Reihe zu finden sind, wird auch dieser Index noch ihre Gunst spüren. Nicht zuletzt bedienen vieler dieser Titel das Megathema Klimaschutz. Sie werden also bei der Transformation von Klimanotstand in Klimawohlstand sehr erfolgreich sein.
Die deutschen (Wirtschafts-)Tugenden kommen zurück
Glücklicherweise sind deutsche Industriefirmen auch endlich wieder bereit, den Fehdehandschuh der ausländischen Konkurrenz aufzunehmen. Die deutsche Autoindustrie lässt sich von Tesla nicht länger die Butter vom Brot nehmen. Mit deutscher Wertarbeit geht man gegen amerikanisches Power-Marketing vor. Z.B. will Volkswagen mit eigener E-Infrastruktur vom Gejagten zum Jäger werden. Und während der "Techno-King of Tesla" nicht nur zum Mars will und auch die Bewertung seiner Firma Mars-ähnlich weit weg ist, bleibt das KGV von Volkswagen ziemlich irdisch. Auch andere deutsche Autobauer sind dabei, das good old German Gütesiegel "Vorsprung durch Technik" zu reaktivieren.
Ja, im Mikrokosmos deutscher Industrie-Unternehmen wird wieder populäre Wirtschafts-Musik gespielt. Weitere Nr. 1-Hits, d.h. neue Allzeithochs, sind zu erwarten. Allerdings muss mit zwischenzeitlichen Kurseintrübungen und Schwankungen gerechnet werden. Die Erfahrung lehrt aber, dass Rücksetzer wieder zügig aufgeholt werden. Und dann gibt es ja noch die regelmäßigen Aktiensparpläne, mit denen sich Anleger die Volatilitäten langfristig zunutze machen können.
Wie schön, wenn doch auch der Makrokosmos, die Politik, einen guten Musik-Geschmack beweisen könnte, wenn doch endlich auch die wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen melodisch erklingen würden.
Dann produzierte der deutsche Aktienmarkt goldene und Platin-Schallplatten am laufenden Band.
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Robert Halver leitet die Kapitalmarktanalyse bei der Baader Bank.