Das Bargeld weicht den Zahlkarten, also Debit- und Kreditkarten, und diese wandern ins Mobiltelefon. Damit wird die Wertschöpfungskette von unzähligen Industrien völlig neu geknüpft. Zurzeit ist Europa dabei in einer denkbar schlechten Ausgangslage. Denn die Regelwerke, die festlegen, wie diese Karten funktionieren, wer wie viel der Gebühren erhält und wer die Datenhoheit hält, stammen zum größten Teil aus den USA. Die häufigsten Kartensysteme, englisch Schemes genannt, sind Visa und Mastercard. Ein grenzüberschreitendes Regelwerk für eine Kartentransaktion aus und für Europa gibt es nicht. In den meisten Ländern Europas haben die amerikanischen Card-Schemes die lokalen Zahlungsinstrumente in den letzten Jahren abgelöst.

Der Schritt der Digitalisierung der Zahlkarten ins Mobiltelefon hat nun enorme Sprengkraft. Mobiltelefone sind mächtige, interaktive Geräte, bei denen die Customer Journey, also die Kundenreise, den entscheidenden Unterschied macht. Diese Transformation ergibt für Europa leider eine leicht toxische Dynamik. Denn die wichtigsten Spieler, die sich um die Dominanz ihrer Geldbörsenlösung, der sogenannten Payment Wallet, bemühen, sind US-Firmen wie Google mit Google Pay und Apple mit Apple Pay.

Die Daten des Kunden sind für Unternehmen bares Geld wert Der Grund ist klar: In jeder Digitalisierung gewinnt derjenige den Kunden und damit die Wertschöpfungskette, der die Kundenreise bestimmt. Er kennt die Nutzungsdaten und kann die Aufmerksamkeit des Kunden zu weiteren Produkten seiner Wahl steuern. Google und Apple verstehen es besser als die meisten Unternehmen der Welt, diese Customer Journey in Marktdominanz und Einnahmen zu konvertieren. Wenn Google und Apple mit ihren Payment Wallets das mobile Bezahlen kontrollieren, dann sind die nächsten Schritte absehbar und für Europas Banken und Handel nicht nur positiv zu bewerten. Nehmen wir Apple Pay als Gedankenspiel: Apple verbietet Drittparteien und damit auch Banken den Zugang zum Kontaktlos-Chip im iPhone. Damit bleibt einer Bank keine andere Wahl, als ihre Karten via Apple Wallet in das Mobiltelefon ihrer Kunden zu integrieren. Die Kundenreise liegt dadurch in den Händen von Apple. Für dieses "Privileg" der Abtretung des Kunden müssen hiesige Banken sogar noch eine Gebühr pro Transaktion an Apple bezahlen.

Diese Kombination muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: Eine der wichtigsten Industrien Europas sieht sich gezwungen, ihre über Jahrzehnte aufgebaute Kundschaft gegen eine transaktionsbasierte Gebühr (!) an Apple zu übergeben. Apple wird nun den gewonnenen Kunden noch enger an die eigene Plattform binden.

Der nächste denkbare Schritt wäre etwa, in der Apple Wallet den Kontostand des Kunden anzuzeigen. Diese Funktion ist mit Abstand der häufigste Grund für einen Nutzer, seine Banking-App zu starten. Dies wäre nun nicht mehr nötig. Da Apple das Betriebssystem kontrolliert, genügt ein einfacher Doppelklick auf den Home Button, um die Apple Wallet zu öffnen und neben dem Bezahlen Kontoinformationsdienste zur Verfügung zu stellen. Technisch und rechtlich ermöglichen wird diesen Schritt die EU Payment Services Directive, doch dazu später mehr.

Es ist durchaus denkbar, dass man in Zukunft mit der Kamera des iPhones Zahlscheine abfotografieren und Zahlungen direkt aus der Apple Wallet tätigen kann. Damit ist die Banking-App europäischer Kreditinstitute fast gänzlich hinfällig geworden. Zu guter Letzt hat Apple angekündigt, mithilfe von Goldman Sachs eine eigene Kreditkarte in der Apple Wallet anzubieten. Damit wären die letzten Einnahmen (und Daten) aus dem Zahlungsverkehr für hiesige Banken verschwunden.

Die gleichen Schritte lassen sich mit leicht anderen Ausprägungen bei Google, Amazon und Paypal prognostizieren. Jede dieser Firmen hat ein anderes Geschäftsmodell und wird daher die Übernahme des europäischen Kunden leicht anders orchestrieren. Google etwa wird traditionellerweise von Bank-"Partnern" keine Gebühr verlangen. Denn die Werbeeinnahmen lassen sich vervielfachen, wenn Google den Werbetreibenden beweisen kann, dass der Kunde die Waren wirklich gekauft hat. Google hat nun vor wenigen Tagen die E-Geld-Lizenz für Europa erhalten. Das Unternehmen ist auf dem richtigen Weg, um die Kundenreise zu vertiefen.

Europas ungewollte und indirekte Antwort auf den Angriff der US-Anbieter ist eine einmalige Direktive, quasi eine Einladung aus Brüssel. Europas Bank-Industrie, eine der wichtigsten Branchen des Kontinents, wird ab September 2019 verpflichtet, jeder beim Regulator registrierten Drittpartei gratis (!) 90 Tage Kontoinformationen via Schnittstellen auszuhändigen und das Auslösen von Zahlungen direkt vom Girokonto zu ermöglichen. Die Direktive ist bindend und die Deadline naht.

Die Möglichkeit, auf Hunderte Millionen Bankkonten ohne Vertrag mit der Bank zugreifen zu können, wird Disruption hervorbringen und Konsequenzen haben, die vorher nicht absehbar waren. Absehbar ist, dass Apple, Google, Paypal und Amazon diese Schnittstellen als Erste nutzen werden, um die Kundenreise endgültig zu übernehmen. Es ist sensationell, dass keiner der Teilnehmer sich um eine Banklizenz in Europa bemühen und sich damit den Kosten beziehungsweise der Regulierung der hiesigen Banken unterwerfen muss.

Europa hat Chancen im Kampf um die digitale Geldbörse



Wenn wir Europäer den Formatwechsel zum eigenen Vorteil nutzen wollen, müssen wir Payment von Grund auf neu denken. Beispiele, dass dies sehr wohl funktionieren kann, sind die Bezahllösungen von Starbucks, Alipay und Wechat. Diese Firmen dominieren nach Anzahl der Nutzer und Transaktionen die kartenbasierten Systeme von Google und Apple um ein Vielfaches. Sie funktionieren auch einfacher: Der Händler scannt einen einmal gültigen Barcode aus der Banken- oder Händler-App ein, und die Buchung passiert in Echtzeit, direkt am Girokonto. Die Technik und das juristische Regelwerk existieren mit dem europäischen anonymen Verfahren Bluecode. Ob die Banken und Händler Europas auf den Zug aufspringen, wird sich zeigen. Die letzten Entwicklungen zeigen in die richtige Richtung. Die Schlacht ist noch nicht verloren.

Zur Person: Christian Pirkner ist Doktor der Finanzwissenschaften der Universität St. Gallen und der New York University. Während seiner Zeit im Silicon Valley führte er zwei Start-ups in den Bereichen Musikerkennung und ­Video-Distribution zum Exit. In seiner Freizeit arbeitet er als Mentor und Investor mit Start-ups zusammen. ­Bluecode ist eine ­Mobile-Payment-Lösung für europäische Banken und Händler.