Die Gretchenfrage lautet: Wie nah steht die Euro-Zone am Abgrund einer Deflation, also einer ruinösen Abwärtsspirale von Löhnen, Preisen und Investitionen? Noch nicht nahe genug, um eine Zinssenkung unter das ohnehin schon historisch niedrige Niveau von 0,25 Prozent zu rechtfertigen, meinen die meisten Experten. Selbst die jüngsten Turbulenzen im Sog der Ukraine-Krise dürften die Währungshüter nicht aus der Reserve locken. Doch könnte Draghi auch eine andere Karte ziehen und so mit einem Kniff viele Milliarden Euro in das Finanzsystem schleusen.

Im Februar stiegen die Preise im Euro-Raum gegenüber dem Vorjahresmonat um 0,8 Prozent. Damit liegt die Inflationsrate zwar weiter deutlich unter dem von der EZB angestrebten Niveau von knapp unter zwei Prozent. Im Vergleich zum Januar zogen die Preise jedoch leicht an. Commerzbank-Chefvolkswirt Jörg Krämer sieht darin einen "Schlag fur die EZB-Tauben". Dies ist jene Fraktion im EZB-Rat, die im Unterschied zu den sogenannten Falken eine laxere Geldpolitik befürwortet. Die Wahrscheinlichkeit einer Zinssenkung sei gesunken, so Krämer.

Er ist damit in guter Gesellschaft: Von den 78 von Reuters befragten Ökonomen erwarten 52 diese Woche keine weitere Lockerung. Auch der Ukraine-Konflikt werde die EZB nicht in Zugzwang bringen, ergänzt Krämer. Die Risiken aus dem eskalierenden Streit zwischen Kiew und Moskau wirkten allenfalls auf die Konjunktur: "Da muss schon einiges passieren, um die doch recht robuste Erholung ins Wanken zu bringen." Doch birgt der Konflikt geopolitisch Zündstoff, wie Draghi warnt: "Wir sollten das mit großer Aufmerksamkeit im Auge behalten."

DEFLATION - EINE SEHR REALE GEFAHR?

Dies gilt auch für das Thema Deflation. Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) fürchtet, dieses Risiko sei weiter "sehr real". Die EZB müsse darüber nachdenken, wie sie sich gegen ein solches Szenario absichern könne. Draghi selbst hat klar gemacht, dass er die Euro-Länder nicht am Rande einer Deflation sieht. Davon könne erst die Rede sein, wenn der niedrige Teuerungsdruck zu einem breitangelegten und längeren Verfall der Preise führe. Doch immer wenn das Inflationsziel weit entfernt sei, habe die EZB ein Problem, stabile Preise zu erreichen, räumte Draghi jüngst vor Europa-Parlamentariern ein.

Mit Spannung erwarten Börsianer daher die neuen Inflationsprognosen der EZB, die erstmals bis ins Jahr 2016 reichen werden. Bislang hatten die Notenbanker im laufenden Jahr eine Teuerungsrate von 1,1 Prozent und 2015 von 1,3 Prozent erwartet. Je niedriger die Prognose ausfällt, desto lockerer ist tendenziell die künftige Geldpolitik.

170 MILLIARDEN EURO AUF EINEN SCHLAG

Die EZB könnte dennoch etwas tun, um in Zeiten niedriger Inflation kräftig Geld in das Finanzsystem zu pumpen und damit die Wirtschaft anzukurbeln. Den Hebel dafür bietet das umstrittene Staatsanleihen-Programm der EZB: Zwischen 2010 und 2012 kaufte die Zentralbank in der Euro-Krise Bonds von Griechenland, Irland, Portugal, Italien und Spanien für mehr als 200 Milliarden Euro. Dieses Geld gelangte jedoch nie ins Finanzsystem, da die EZB es Woche für Woche mit speziellen Geldmarkt-Operationen abschöpft.

Grund für diese sogenannte Sterilisierung waren Befürchtungen, dass das viele Geld die Inflation anheizen könnte. Gegenwärtig ist aber die Teuerung niedriger als der EZB lieb sein kann. Deshalb könnte sie nun mit dem Abschöpfen aufhören, was entsprechend dem Restwert der Anleihen auf einen Schlag etwa 170 Milliarden Euro freisetzen würde. Wie aus Zentralbank-Kreisen verlautet, steht der EZB-Rat vor einer einstimmigen Entscheidung zum Ende der Sterilisierung.

Wie auch immer die Entscheidung über dieses Detail am Donnerstag ausfällt: Die US-Investmentbank Goldman Sachs schaut in Sachen Geldpolitik längst auf die übernächste Sitzung: "Wir erwarten den Tiefpunkt der Inflationsrate mit 0,4 Prozent im März", sagt Europa-Volkswirt Dirk Schumacher. Behält er Recht, dürfte der Druck auf die EZB deutlich steigen. Schumachers Prognose lautet: Um im April noch handlungsfähig zu sein, bleibt Draghis nächstes Ass im März noch im Ärmel.

Reuters