Auf seiner Abschieds-Pressekonferenz wiederholte Noch-EZB-Chef Mario Draghi seine schwache Konjunktureinschätzung für die Eurozone. Der Weg für weitere geldpolitische Üppigkeiten ist vorgezeichnet. Zwar sorgt die momentane Waffenruhe im Handelskrieg zwischen Amerika und China vorerst für Entspannung. Allerdings entspricht eine nachhaltige Beilegung des auch ideologisch geführten Konflikts der Quadratur des Kreises.
Überhaupt droht der transatlantische Handelskonflikt im November durch potenzielle US-Strafzölle auf europäische Autos erst richtig Fahrt aufzunehmen. Und auch in puncto Brexit ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Vor diesem Hintergrund gibt es noch kaum Anzeichen, dass der Schrumpfkurs der Industrie ein baldiges Ende findet. Dabei strahlt die Investitionsflaute auch zunehmend auf den Dienstleistungssektor aus, der an Widerstandsfähigkeit eingebüßt hat.
Desinflation hält die geldpolitischen Falken noch lange fern
Von der Inflationsfront vernimmt die EZB ohnehin keine kritischen Signale. Insbesondere die aufgrund einer Überversorgung auch zukünftig moderate Ölpreisentwicklung spricht für gedämpfte Preiserwartungen. Selbst vom jetzigen Niveau ansteigende Ölpreise würden aufgrund höherer Preise im Vorjahresvergleich keine große Inflationsbeschleunigung bedeuten.
Entsprechend signalisieren Inflationserwartungen auf dem niedrigsten Niveau seit 10 Jahren - denen die tatsächlichen Inflationsdaten mit zeitlicher Verzögerung in der Regel folgen - kein Ende des Desinflationierungsdrucks in der Eurozone. Angesichts einer anämischen Preissteigerung von 0,8 Prozent im September - einem Drei-Jahres-Tief - hat sich die EZB festgelegt, dass die Leitzinsen so lange auf ihrem aktuellen oder einem niedrigeren Niveau verbleiben, bis sich eine deutliche und durchgängige Annäherung der Inflationsaussichten an ihr Preisziel von zwei Prozent einstellt.
Mit Blick auf die verhaltenen Inflationsprojektionen kann dies frühestens 2022 der Fall sein. Und da die EZB mit robust meint, auch ein kurzfristiges Überschießen der Inflation zuzulassen, verschiebt sich der Zeitraum noch weiter nach hinten.
Der Euro hat kein großes Aufwertungspotenzial
Ohnehin unternimmt die EZB keine Zinsrestriktionen, um keine konjunkturschwächende Euro-Aufwertung loszutreten, nachdem die US-Notenbank ihrer Exportwirtschaft mit währungsschwächenden Zinssenkungen bereits auf die Sprünge hilft.
Auch mit der Ankündigung der Fed, Staatsanleihekäufe kurzer Laufzeiten von bis zu einem Jahr in bislang unbekanntem Umfang zu tätigen, betreibt die Fed bereits eine US-Dollar-Abschwächung.
Mit der Wiederaufnahme ihrer Aufkäufe von Staatsanleihen über alle Laufzeiten hinweg von monatlich 20 Mrd. Euro ab November ohne zeitliche Beschränkung beugt die EZB jedoch einem Euro-Aufwertungsdruck wirksam vor.
Überhaupt spricht der wachstumsfreundliche US-Standort für den Dollar, dem der Handelskonflikt mit China weniger schadet als der exportsensitiven Euro-Wirtschaft. Dollar-stärkend wirken auch die latenten politischen Risiken in Europa. Im Trend hält an den Terminmärkten die Spekulation auf eine grundsätzliche Euro-Schwäche an.
Marktstimmung - Ach, wenn doch nur die (handels-)politischen Querschüsse aufhörten
In politisch schwierigen Börsenzeiten stabilisiert das "lower for longer" der EZB ohne Zweifel die europäischen Aktienmärkte via Liquiditätshausse.
Auf politischer Ebene hat das britische Parlament den Vorstoß Johnsons abgelehnt, die für den EU-Austritt notwendige nationale Gesetzgebung im Laufe dieser Woche abzuschließen. Der Brexit zum 31. Oktober fällt damit aus. Allerdings stimmten die Parlamentarier dem von Johnson und der EU veränderten Brexit-Vertrag im Grundsatz zu. Und die EU hat bereits ihre Zustimmung zu einer Fristverlängerung - mutmaßlich einer "Flextention", die neben einer grundsätzlichen Fristverlängerung auch einen flexiblen Austritt erlaubt - signalisiert.
Vor diesem Hintergrund fordert Premier Johnson nun Neuwahlen am 12. Dezember. Damit liefert Johnson der EU die nötigen Argumente, um einer Fristverlängerung zuzustimmen. Dabei will er den Brexit-müden Briten vermitteln, dass nur er einen für Großbritannien guten Brexit-Deal mit der EU vereinbart hat. Und nur die parlamentarische Opposition sei mit ihrer Dauerrenitenz dafür verantwortlich, dass er sein Versprechen eines Brexit zum 31. Oktober nicht halten konnte. In Umfragen liegt Johnsons Conservative Party vorn. Damit ist ein zweites Referendum unwahrscheinlich geworden, das Johnson sowieso ablehnt. Die Labour Party, die unter ihrem Chef in Brexit-Fragen mit gespaltener Zunge spricht, ist sich dieses Wahlrisikos aber bewusst, so dass sie Neuwahlen zumindest vorerst nicht zustimmt und insofern die dazu erforderliche Zweidrittelmehrheit nicht erreicht wird. Vorerst werden weitere Grabenkämpfe im Parlament lebendige Beweise für den einzigartigen britischen Humor liefern.
Insgesamt ist das Risiko eines No Deal-Brexit weitgehend verschwunden. Denn mit Blick auf "seinen" Brexit-Deal kann Johnson kein Interesse mehr an einer schmutzigen Scheidung von der EU haben. Der Brexit mit Deal ist aufgeschoben, aber nicht aufgehoben. Stabile britische Aktien und rückläufige Schwankungen des britischen Pfunds zum Euro unterstreichen die rückläufige Verunsicherung.
Zwischenzeitlich sorgen versöhnliche Töne im US-chinesischen Handelskrieg für aufkeimende Konjunkturhoffnungen. Dass Trump im November 2020 als US-Präsident wiedergewählt werden will, spricht für eine zumindest kleine Lösung des Konflikts, die auch China aufgrund weniger opulenter Wirtschaftsaussichten befürwortet. In Anbetracht der gewaltigen Investitionsbudgets von Unternehmen, die aus handelskriegerischer und Zoll-Verunsicherung nicht abgerufen werden, wird jede nennenswerte Befriedung einen massiven Investitionsimpuls bedeuten, der sich in einer Jahresend-Rallye fundamental niederschlüge.
Positiv zu bemerken ist, dass die angelaufene Berichtsaison in den USA für das III. Quartal weniger enttäuschend verläuft als befürchtet.
Insgesamt herrscht aus Sentimentsicht an den Aktienmärkten zwar gute Laune. Auch der von Citigroup veröffentlichte Macro Risk Index signalisiert wieder mehr Risikofreude der Anleger.
Überhitzungen oder Euphorie sind allerdings nicht zu beobachten. Denn in den Zukunftserwartungen der Anleger äußert sich noch Skepsis über die Nachhaltigkeit der Aktienrallye, was sich ebenso in einer geringen Investitionsquote unter US-Fondsmanagern bemerkbar macht.
Charttechnik DAX - Wie weit trägt die Rallye?
Der DAX trifft bei fortgesetzter Aufwärtsbewegung bei 12.914 Punkten auf ersten Widerstand. Es folgen weitere Hürden bei 13.170 und 13.204. Bei einer Gegenbewegung trifft der Index auf Unterstützungen bei 12.804 und 12.698. Werden diese unterschritten, droht der Index bis zu den Marken bei 12.604 und darunter 12.408 Punkten zurückzufallen.
Der Wochenausblick für die KW 44 - Aller guten Dinge sind drei Fed-Zinssenkungen
In China signalisieren sowohl die offiziellen Einkaufsmanagerindices für das Verarbeitende und Dienstleistungsgewerbe als auch die von der privaten Finanznachrichtenagentur Caixin veröffentlichte Industriestimmung eine Konjunkturstabilisierung auf niedrigem Niveau.
In den USA unterstreichen schwächere BIP-Daten für das III. Quartal die Konjunkturverlangsamung, die sich bereits in vergleichsweise kraftlosen US-Arbeitsmarktdaten bemerkbar macht. Immerhin signalisiert der ISM Index eine Stabilisierung der US-Industriestimmung auf dem aktuell niedrigen Niveau. Vor diesem Hintergrund wird die Fed auf ihrer Sitzung die Notenbankzinsen zum dritten Mal in Folge auf 1,75 Prozent senken und ein erneutes Aufkaufprogramm für kurzlaufende US-Staatsanleihen beschließen.
In der Eurozone bleibt der Inflationsdruck gemäß Vorabschätzungen für Oktober kraftlos, während der von der EU-Kommission ermittelte Konjunkturklima-Indikator auf verhaltene Wirtschaftsperspektiven hindeutet.
In Deutschland deuten die Einzelhandelsumsätze für September auf eine Konsumabschwächung hin.
Rechtliche Hinweise / Disclaimer und Grundsätze zum Umgang mit Interessenkonflikten der Baader Bank AG: https://www.bondboard.de/main/pages/index/p/128
Robert Halver leitet die Kapitalmarktanalyse bei der Baader Bank.