Doch sei derzeit keine Abkehr von der Politik des billigen Geldes angezeigt: "Falls wir jetzt Straffungsmaßnahmen einleiten sollten, würde das wesentlich mehr Schaden anrichten als Gutes bewirken." Selbst eine Straffung auf kurze Sicht anzudeuten, würde der Wirtschaft im Euroraum schaden. Diese sei auf dem Weg der Besserung und könne gegen Jahresende ihr Vorkrisenniveau übertreffen.
Lagarde bekräftigte erneut, 2022 sei eine Zinserhöhung sehr unwahrscheinlich. Auf eine Spekulation über den Leitzins im Jahr 2023 wolle sie sich aber nicht einlassen. Die Teuerungsrate im Euroraum lag im Oktober mit 4,1 Prozent so hoch wie seit über 13 Jahren nicht mehr. Deutsche-Bank-Chef Christian Sewing sieht die Geldpolitik vor diesem Hintergrund gefordert gegenzusteuern: "Und das eher früher als später," sagte er auf der Euro Finance Week in Frankfurt. "Das vermeintliche Allheilmittel der vergangenen Jahre - niedrige Zinsen bei scheinbar stabilen Preisen - hat seine Wirkung verloren, jetzt kämpfen wir mit den Nebenwirkungen."
Den Leitzins hält die EZB auf dem Rekordtief von 0,0 Prozent - den Einlagesatz bei minus 0,5 Prozent. Die Geldhäuser müssen damit Strafzinsen zahlen, wenn sie überschüssige Gelder bei der Notenbank parken. Die ultratiefen Zinsen im Euroraum belasten aus Sicht von EZB-Chefbankenaufseher Andrea Enria Geldhäuser inzwischen mehr als sie ihnen Vorteile verschaffen.
"GERAUBTER GELDWERT"
Lagarde wurde bei der Anhörung vor dem EU-Parlament von dem Abgeordneten Markus Ferber (CSU) auch mit dem Argument konfrontiert, die Bürger verlören allmählich das Vertrauen, wenn ihnen durch hohe Inflation "Monat für Monat Geldwert geraubt" werde. Die EZB nehme die Sorgen der Menschen sehr ernst, erwiderte Lagarde. "Wir versuchen der Inflation auf den Grund zu gehen und wirklich zu verstehen, was sie antreibt." Allein die explodierenden Energiekosten machten die Hälfte des Preisauftriebs aus, betonte sie. Die EZB beobachte sehr aufmerksam, ob sich über das Lohnwachstum womöglich höherer Inflationsdruck aufbaue: "Bislang sehen wir jedoch keine Hinweise dafür in den Daten zu den ausgehandelten Löhnen."
Im September hatten die Volkswirte der EZB in ihren Projektionen für 2022 eine Teuerungsrate von 1,7 Prozent veranschlagt, die 2023 auf 1,5 Prozent absinken soll. Zur nächsten Zinssitzung Mitte Dezember legt die EZB aktualisierte Projektionen vor, die auch das Jahr 2024 umfassen werden.
Mittelfristig erwarte die Notenbank weiterhin, dass die Teuerung im Währungsraum unter dem EZB-Inflationsziel von zwei Prozent liegen werde, sagte Lagarde. Sie hat bereits signalisiert, dass das billionenschwere Corona-Notprogramm PEPP der Notenbank im März 2022 enden dürfte. Lagarde sagte nun per Videolink vor dem Ausschuss für Wirtschaft und Währung des Europarlaments, der EZB-Rat werde bei seiner für Mitte Dezember anstehenden Entscheidung über die Zukunft des Programms auch die Corona-Lage berücksichtigen.
In Fachkreisen wird spekuliert, dass das kleinere EZB-Anleihenprogramm APP in der einen oder anderen Form nach dem Ende von PEPP weitergeführt wird. Die monatlichen Kaufvolumina von 20 Milliarden Euro fallen derzeit deutlich geringer aus als die des PEPP mit einem gewaltigen Gesamtvolumen von 1,85 Billionen Euro.
rtr