Der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder über die Chancen der SPD, sein Faible für die Sparkasse, überfällige Reformen, Hartz IV als Glücksfall für die Union - und die Bundestagswahl. Von M. Hinterberger und F. Petruschke, Euro am Sonntag
Der Handschlag ist fest, die Stimmung entspannt und locker. Von Corona-bedingter Zurückhaltung keine Spur. Gerhard Schröder empfängt in seinem Eckbüro im Otto-Wels-Haus Unter den Linden in Berlin. Das Kanzleramt - sein ehemaliger Arbeitsplatz - ist etwa 15 Gehminuten entfernt.
In den Sessel gelehnt, beantwortet der Altkanzler die Fragen und spannt dabei schnell den großen Bogen - über seine eigene Geldanlage, die Probleme bei der Rente, angestaute Reformen, die Folgen der Pandemie und natürlich den Bundestagswahlkampf. Mit Blick auf den anstehenden Urnengang fällt auf, dass er versucht, sich an manchen Stellen zu zügeln, um seiner eigenen Partei - besonders Olaf Scholz - nicht in den Rücken zu fallen.
Schröder wäre aber freilich nicht Schröder, wenn er gänzlich auf Nadelstiche verzichten könnte. Besonders bei Themen, die seine eigene Amtszeit betreffen, wird er deutlich, fängt an zu gestikulieren, er rutscht im Sessel nach vorn - und der Blick wird durchdringend. Das zeigt: Auch mit 77 Jahren könnte Schröder noch Wahlkampf. Er ist immer noch bestens informiert und will weitermachen, so lange es geht. Nur mit politischem Kleinkram will er sich nicht befassen. Muss er auch nicht mehr.
Euro am Sonntag: Herr Schröder, was bedeutet Ihnen Geld?
Gerhard Schröder: Nicht besonders viel. Natürlich muss ich meine Familie ernähren und gut leben können. Das heißt: Leben, wie ich es möchte.
Wo fängt Reichtum für Sie an?
Tja, wenn ich das nur wüsste! Schön finde ich ein englisches Sprichwort: "What means wealthy? If you can live from the interest. And what means real wealthy? If you can live from the interest of the interest." ("Was heißt reich? Wenn du vom Zins leben kannst. Und was heißt richtig reich? Wenn du vom Zinseszins leben kannst.") Davon bin ich allerdings weit entfernt.
Zahlen Sie lieber bar oder elektronisch?
Da bin ich eher old school. Ich zahle immer noch sehr gern bar, weil ich es einfacher finde. Ich mache auch kein Onlinebanking, sondern gehe zu meiner Sparkasse.
Sie lassen alle Geldgeschäfte ausschließlich über die Sparkasse regeln?
Ja. Das liegt aber auch daran, dass meine Anlagestrategie sehr begrenzt ist. Ich habe keine Aktien oder Fonds.
Sie besitzen keine einzige Aktie?
Doch, ich besitze zwei Aktien von Continental. Diese musste ich kaufen, als ich 2008 auf Wunsch der Gewerkschaften das Amt des Ombudsmanns bei der Übernahme durch die Schaeffler-Gruppe innehatte. Die beiden Aktien haben damals 50 Euro gekostet, heute sind sie 250 Euro wert. Davon hätte ich mal mehr kaufen sollen.
Hat es Sie nie gereizt, Ihr Geld an der Börse zu investieren?
Gejuckt hat es mich schon, wie viele andere auch, aber ich glaube, dass man dafür einige spezielle Kenntnisse braucht, mehr jedenfalls, als ich habe. Ich hätte auch einfach keine Zeit und keine Lust, mich jeden Tag damit zu beschäftigen.
Geld fürs Alter zu sparen, ist für viele Menschen ein Problem. Experten des Wirtschaftsministeriums haben etwa empfohlen, das Renteneintrittsalter auf 68 Jahre zu erhöhen.
Die gesetzliche Rentenversicherung wird aufgrund der demografischen Entwicklung in fünf bis zehn Jahren in Schwierigkeiten geraten. Ich finde, dass diejenigen, die länger arbeiten können, das auch tun sollten. Voraussetzung ist, dass ihnen damit keine finanziellen Nachteile entstehen. Das ist das Mindeste.
Sie sprechen von denen, die länger arbeiten wollen. Was aber ist mit der Krankenschwester oder dem Pfleger, die das rein körperlich gar nicht so lange können?
Richtig. Deshalb muss man hier differenzieren. Ein Lohnbuchhalter kann sicher länger arbeiten als eine Krankenpflegerin oder auch ein Bauarbeiter. Diese Unterschiede kommen in der Debatte aber leider häufig zu kurz.
Das deutsche Rentensystem ist insgesamt in einem schlechten Zustand. Auch die von Ihrer Regierung geschaffene Riester-Rente wird kritisiert, manche würde sie am liebsten wieder abschaffen. Was müsste passieren?
Das Rentensystem basiert auf drei Säulen: der gesetzlichen, der betrieblichen und der privaten Rente. Wir haben damals mit der Riester-Rente diese dritte Säule geschaffen, um die beiden anderen Säulen mit staatlicher Hilfe zu unterstützen, private Vorsorgeleistungen zu ergänzen. Dieses Prinzip war damals richtig, und das ist es heute immer noch. Dennoch ist manche Kritik sicher berechtigt …
… zum Beispiel die hohen Kosten und der bürokratische Aufwand.
Das sind aber Dinge, die sich nachjustieren lassen. Alles einfach abzuschaffen, wäre für mich auch keine Lösung. Wir sollten das gegenwärtige System grundsätzlich beibehalten, aber die Fehler beseitigen. Das ist auch eine Frage der politischen Verlässlichkeit.
Hinzu kommt, dass die Große Koalition durch die Rente mit 63 und die sogenannte Mütterrente in der Vergangenheit recht spendabel war.
Richtig. Die haben damit ganz schön was verfrühstückt, ohne dass es den Betroffenen viel gebracht hätte. Es wäre besser gewesen, dieses Geld in die Stabilität des ganzen Rentensystems zu stecken.
Was ist die Folge?
Die nächste Regierung, spätestens die übernächste, wird dieses riesige Problem angehen müssen - und dann wird man in den 2030er-Jahren auch über eine weitere Anhebung der Lebensarbeitszeit diskutieren müssen.
Abgesehen vom Thema Rente, welche Reformen haben sich nach 16 Jahren unter Führung von Angela Merkel noch angestaut?
Das Land braucht dringend mehr Investitionen in alle Stufen des Bildungssystems, vor allem in Forschung und Entwicklung, aber auch in die Qualifikation von Arbeitnehmern. Darüber hinaus ist die Infrastruktur dringend erneuerungsbedürftig: Die Bahn, Brücken und viele Wasserstraßen sind marode, die Digitalisierung hinkt hinterher. Hier gilt es schleunigst nachzubessern, denn eine intakte Infrastruktur war für uns im Vergleich zu anderen EU-Staaten immer ein Vorteil.
Was hat die aktuelle Regierung richtig gemacht?
Richtig war, die Folgen der Corona-Krise, genauso wie in der Finanzkrise, mit großzügigen staatlichen Mitteln abzufedern. Diese kalkulierte Verschuldung war in diesen besonderen Situationen vernünftig. Das gilt auch für die Hilfen für unsere europäischen Nachbarn, deren Volkswirtschaften nicht zuletzt häufig unsere Produkte abnehmen. Wenn es denen schlecht geht, haben auch wir zu leiden.
Für die junge Generation summiert sich da ordentlich was zusammen.
Ja und nein. Wenn wir es schaffen, über neue Schulden nicht nur privaten Konsum auf Pump zu finanzieren, sondern das Geld in Bildung und Infrastruktur stecken - dann profitieren langfristig auch künftige Generationen davon. Dann ist Schuldenmachen auch zu verantworten.
Wie soll das alles finanziert werden?
Die einzige Möglichkeit ist - wie Finanzminister Olaf Scholz auch plant -, durch ein kräftiges Wirtschaftswachstum aus den Schulden wieder herauszukommen. Vollständig ist das kaum möglich, aber zumindest bis zu einem bestimmten Grad. Auch die Gewerkschaften, finde ich, werden ihrer Verantwortung gerecht, indem sie bei Lohnerhöhungen vergleichsweise zurückhaltend waren.
Ein anderer Weg, der sich auch im Wahlprogramm der SPD findet, sind höhere Steuern oder eine Vermögensabgabe.
Diese Diskussion wird seit Jahrzehnten geführt und endet stets in einer Sackgasse. Wenn wir jetzt sagen: Die Krise überstehen wir nur mit höheren Steuern, halte ich das für falsch. Denn damit würden wir die Wirtschaft nicht stabilisieren, sondern verunsichern und neue Investitionen verhindern.
Trotzdem sind die sozialen Verwerfungen der Krise doch eigentlich ein Kernthema der SPD?
Stimmt, auch ich war immer für einen starken Sozialstaat. Aber dieser kann eben nur auf Basis einer prosperierenden Wirtschaft funktionieren. Das war auch der Grund für unsere Arbeitsmarktreformen in meiner Regierungszeit. Wir mussten etwas tun, um uns unseren Sozialstaat wieder leisten zu können.
Die Hartz-Reformen haben Sie das Kanzleramt gekostet.
Ein Problem einfach auszusitzen war noch nie eine gute Idee - auch wenn das viele Politiker inzwischen so machen. Zu politischer Führung gehört auch, unpopuläre Dinge zu tun und sich gegen Widerstände durchzusetzen. Für mich hat das damals bedeutet, der Sache wegen mein Amt zu riskieren.
Aber in der öffentlichen Wahrnehmung werden die Erfolge dieser Politik häufig Ihrer Nachfolgerin zugeschlagen.
Natürlich. Frau Merkel hat das auch schlau angestellt. Sie hat sich als Erstes hingestellt und gesagt "Schröder hat das mit der Agenda toll gemacht". Das war aber nur deshalb möglich, weil Teile der SPD diese Reformdividende nicht wollten - und sich möglichst schnell von der Reformpolitik distanziert haben. Man kann eben schlecht erfolgreich sein, wenn man das, was man selbst geschaffen hat, ständig kritisiert. Das versteht ja kein Wähler.
Klingt nach einer Frage der Kommunikation.
Nicht nur. Das Wesen der SPD ist nun mal, dass die Partei mit dem relativen Erfolg nicht zufrieden sein kann. Solange die absolute gesellschaftliche Gerechtigkeit nicht erreicht ist, ist die SPD unzufrieden. Das macht sie ja sympathisch, deshalb bin ich auch Mitglied, aber in der Politik kann man das Paradies auf Erden nun mal nicht erreichen.
Aktuell liegt die SPD in Umfragen bei rund 25 Prozent. Und noch immer scheint die Agenda 2010 viele Ihrer Parteikollegen seltsam zu hemmen.
Ich habe immer gesagt, die Agenda-Reformen sind nicht die Zehn Gebote und ich bin nicht Moses. Aber das Prinzip hinter den Reformen, das Fördern, aber auch das Fordern des Einzelnen, das bleibt richtig. Und das hat meine Partei gelegentlich nicht ernst genug genommen.
Nimmt die SPD dieses Motto heute wieder ernster?
Ich glaube schon. Das sieht man daran, dass die Partei Olaf Scholz keine Steine in den Weg legt und ihn seinen eigenen Wahlkampf führen lässt.
Was ist Ihre persönliche Lehre aus der Pandemie?
Wir müssen die Pflegekräfte besser bezahlen, am besten über Tarifverträge. Diese Menschen müssen nach den auch seelisch sehr harten Monaten wieder Hoffnung bekommen. Das können wir uns allemal leisten. Die gute Nachricht ist: Unser Gesundheitssystem - im Gegensatz zu anderen Ländern - funktioniert. Es ist zwar an manchen Stellen zu bürokratisch und auch kostenintensiv, aber es funktioniert!
Die Pandemie könnte die Bildungschancen für sozial schwächere Schüler weiter verkleinern, sagen erste Studien. Sie selbst kommen aus sehr einfachen Verhältnissen. Glauben Sie, dass eine Karriere wie Ihre auch heute noch möglich ist?
Ich fürchte: eher nein.
Warum?
Als ich aufwuchs, war die Gesellschaft eine viel offenere. Deutschland war von den Nazi-Jahren ausgezehrt, viele junge Menschen hatten ihr Leben in einem sinnlosen Krieg gelassen, ein Großteil der alten Eliten war diskreditiert. Die Gesellschaft musste sich neu finden und brauchte fleißige und aufstiegsbereite Leute. Diese Durchlässigkeit gibt es heute nicht mehr, und das schadet der Gesellschaft.
Ihr Wunsch für die Zukunft?
Ich glaube, dass dieses Europa lebens- und liebenswert ist. Ich wünsche den nachfolgenden Generationen, dass das erhalten bleibt.
Vita:
Der Macher
Gerhard Schröder, Jahrgang 1944, war von 1998 bis 2005 deutscher Bundeskanzler. In seiner Amtszeit beschloss die rot-grüne Koalition den Ausstieg aus der Atomkraft und wichtige Arbeits- und Steuerreformen, bekannt als Agenda 2010. Seit dem Ende seiner politischen Karriere arbeitet Schröder wieder als Rechtsanwalt. Für anhaltende Kritik sorgen seine Tätigkeiten als Wirtschafslobbyist, unter anderem als Aufsichtsrat beim russischen Ölriesen Rosneft und bei der Nord Stream AG. Schröder ist in fünfter Ehe verheiratet und lebt in Hannover.