Standing Ovations für ein Medikament, das gibt es auch in Fachkreisen äußerst selten. Doch beim weltgrößten Krebskongress ASCO Anfang Juni in Chicago applaudierten Hunderte Ärzte, Wissenschaftler und Investmentbanker minutenlang, nachdem sie die Präsentation einer Brustkrebs-Studie mit Enhertu gesehen hatten, ein Mittel von Astrazeneca und Daiichi Sankyo.

Bestimmte Patientinnen mit metastasierenden Tumoren, für die es sonst nur wenige Behandlungsoptionen gibt, hatten Infusionen mit dem Medikament bekommen. Im Vergleich zur Standard-Chemotherapie verlängerte sich der Zeitraum, in dem sich ihre Krankheit nicht verschlechterte, um 50 Prozent. Das Sterberisiko fiel um mehr als ein Drittel. Für diese Patientengruppe sind das sensationelle Zahlen: "Traditionell haben wir Patientinnen in diesem Setting eine palliative Chemotherapie angeboten. Jetzt gibt es die Möglichkeit, dass sie eine Behandlung mit viel besserer Wirkung und einem Überlebensvorteil erhalten", sagt die Ärztin Shanu Modi vom Memorial Sloan Kettering Cancer Center, die die Studie leitete.

Neuer Therapiestandard

Solche Ergebnisse sind nicht nur für Patientinnen und Patienten erfreulich. Die Daten werden einen Paradigmenwechsel in der Behandlung einleiten. Infolgedessen dürften Astrazeneca und Daiichi Sankyo mit Enhertu deutlich mehr verdienen. Analysten der Investmentbank Jefferies erwarten jährliche Einnahmen in Höhe von bis zu 2,5 Milliarden Dollar allein aus der neuen Patientenzielgruppe. Insgesamt könnte Enhertu für die Pharmapartner bis zu 6,6 Milliarden Dollar jährlich einspielen.

Zahlen wie diese elektrisieren die Branche. Das Interesse an der Medikamentenklasse, zu der Enhertu gehört, ist sprunghaft angestiegen, Entwickler der sogenannten Antikörper-Wirkstoff-Konjugate (Englisch: Antibody Drug Conjugates, kurz ADCs) erfahren erhöhte Aufmerksamkeit. Das dürfte auch bei der vom "Wall Street Journal" gemeldeten Absicht von Merck & Co., das US-Unternehmen Seagen zu übernehmen, eine wichtige Rolle spielen. Seagen gilt als Vorreiter der Technologie. Die Übernahme wäre mit einem Transaktionsvolumen von wohl deutlich mehr als 30 Milliarden Dollar die zweitgrößte in der Onkologie seit 2015.

ADCs werden oft mit Lenkflugwaffen verglichen. Sie bestehen aus zwei Teilen: Der Antikörper, ein großes Eiweißmolekül, erkennt selektiv Oberflächenmerkmale von Krebszellen. Im Gepäck hat er einen toxischen Wirkstoff, der bis zu 1.000-fach potenter ist als die üblichen Chemotherapie-Medikamente. Weil die Zellgifte durch den Antikörper gezielt zum Tumor transportiert werden und sich nicht überall im Körper verteilen, können Patienten diese Dosis jedoch verkraften. Dockt der Antikörper an sein Ziel an, dringt das Gift in die Zelle ein und tötet sie ab.

Das funktioniert wohl auch bei benachbarte Zellen, und darin liegt das Novum bei Enhertu, das diesen sogenannten Bystander-Effekt offenbar in besonders großem Ausmaß zeigt. Denn eigentlich steuert das Medikament den bekannten Brustkrebsrezeptor Her-2 an, der allerdings nur bei 15 bis 20 Prozent aller Tumore stark ausgeprägt ist. Bei dieser Patientengruppe ist Enhertu (das Her-2, also Her-Two, auch im Namen trägt) bereits zugelassen - zusammen mit einer ganzen Reihe von anderen zielgerichteten Therapien wie Herceptin oder Kadcyla von Roche.

In der neuen Studie zeigte sich nun, dass Enhertu im Gegensatz zu den anderen Medikamenten aber auch wirkt, wenn nur einige wenige Her-2-Rezeptoren vorhanden sind. Lässt sich dieses Kunststück großer Effekte trotz weniger Zielmoleküle auf andere Krebsarten übertragen, könnte sich das Einsatzgebiet von ADCs deutlich ausweiten. Das prognostizierte Marktvolumen von 15 Milliarden Dollar im Jahr 2030 müsste nach oben korrigiert werden.

Vorteil für Daiichi Sankyo

Doch nicht alle ADCs verfügen über dieses Potenzial. Andere Medikamente der Kategorie, wie beispielsweise Gileads Trodelvy, konnten bisher nicht annähernd so überzeugen. Auch Roche-Chef Severin Schwan äußerte sich vor wenigen Tagen skeptisch gegenüber dem neuen ADC-Enthusiasmus: Das hauseigene Forschungs- und Entwicklungsprogramm sei hinter den Erwartungen zurückgeblieben.

Bei Daiichi Sankyo ist man naturgemäß deutlich zuversichtlicher. Vier weitere ADCs haben die Japaner in der Pipeline, nur einer dieser Produktkandidaten (Datopotamab) ist bereits verpartnert - ebenfalls mit Astrazeneca. Die restlichen drei will Daiichi offenbar selbst zur Marktreife entwickeln und vertreiben, ohne die Erlöse teilen zu müssen. Die nächsten Ergebnisse aus dem Portfolio werden im ersten Halbjahr 2023 erwartet, von einer Phase-3-Studie mit Datopotamab bei Lungenkrebs. Ist auch diese erfolgreich, dürfte es Daiichis Aktienkurs erneut in die Höhe treiben. Analysten von Berenberg prognostizieren für Datopotamab jährliche Umsätze von bis zu zehn Milliarden Dollar.

Diese Dimensionen erklären auch das Interesse an Seagen, schließlich hat der Konzern aus Seattle bereits vier zugelassene Produkte, von denen drei ADCs sind. Dazu kommt ein gutes Dutzend Kandidaten in der frühen klinischen Entwicklung, hauptsächlich Antikörper-Wirkstoff-Konjugate, von denen bisher lediglich einer verpartnert ist - mit Merck & Co. Der Pharmariese erscheint deshalb als naheliegendster Käufer, doch ist nicht ausgeschlossen, dass sich auch andere finanzstarke Konzerne aus der Deckung wagen oder gar ein Bieterkampf entsteht. Seagen-Mitgründer und CEO Clay Siegall musste im Mai seinen Hut nehmen, nachdem Vorwürfe wegen häuslicher Gewalt gegen ihn bekannt geworden waren. Dadurch wurde Seagen aus Sicht vieler Branchenexperten zum Übernahmeziel, auch wenn der Kurseinbruch infolge des Siegall-Skandals längst überwunden ist. Einzig die Ansage der amerikanischen Kartellbehörde FTC, in Zukunft bei Pharmadeals besonders genau hinzuschauen, dämpft die Euphorie der Börsianer.

Wettbewerbsbedenken dürften keine Rolle spielen für Konzerne, die an kleineren ADC-Spezialisten interessiert sind. Unternehmen wie beispielsweise Mersana aus den USA, die Schweizer ADC Therapeutics und Heidelberg Pharma aus Deutschland spüren das gestiegene Interesse an ihrer Technologie. Mersanas Aktienkurs etwa hat seit Mitte Juni über 60 Prozent angezogen. Das am weitesten fortgeschrittene Projekt der Firma ist ein ADC gegen Eierstockkrebs, das demnächst in die finale klinische Testphase geht.

Im Fokus von Big Pharma

Dagegen hat ADC Therapeutics mit Zylonta bereits ein Medikament auf dem Markt. Für einen weiteren Produktkandidaten legten die Schweizer gerade sehr gute Studienergebnisse vor, mit denen sie die Zulassung beantragen wollen. Die enttäuschende Aktienkursentwicklung könnte M & A-willige Schnäppchenjäger anlocken.

Gerade erst angefangen haben die ersten klinischen Studien mit der ADC-Technologie von Heidelberg Pharma. Das Unternehmen nutzt als toxische Wirkstoffkomponente Amanitin, das im Grünen Knollenblätterpilz vorkommt - und hat damit ein Alleinstellungsmerkmal. "Da der Wirkmechanismus von Amanitin anders als bei anderen ADC-Chemotherapeutika unabhängig von der Zellteilung funktioniert, gehen wir aufgrund der präklinischen Daten davon aus, auch ruhende Tumorzellen vernichten zu können", sagt CEO Jan Schmidt-Brand. Wenn spätestens Mitte 2023 die ersten aussagefähigen klinischen Daten vorliegen, dürften größere Pharmafirmen sehr genau hinschauen.

INVESTOR-INFO

Die Grossen Profiteure

Mit kräftigem Rückenwind

Die Pharmakonzerne Daiichi Sankyo und Astrazeneca waren die Gewinner des diesjährigen US-Krebskongresses. Astrazeneca ist dank vieler relativ neuer Krebsmedikamente einer der attraktivsten Pharmawerte. Daiichi punktet mit einer starken ADC-Pipeline, die das Unternehmen auch überwiegend allein vermarkten will. Seagen hat infolge der Übernahmegerüchte bereits deutlich zugelegt, sodass hier das Aufwärtspotenzial begrenzt scheint. Nur einzelne Analysten sehen noch gut zehn Prozent Luft nach oben.

Kleine ADC-Spezialisten

Wecken Begehrlichkeiten

Anleger mit Mut zum Risiko können in kleine ADC-Firmen investieren. Die Schweizer ADC Therapeutics hat sich ganz der Technologie verschrieben, die bisherigen Ergebnisse können sich sehen lassen. Mersanas Medikament gegen Eierstock-Krebs befindet sich genau an dem Punkt in der Entwicklung, an dem größere Pharmakonzerne gern zugreifen. Noch ganz am Anfang steht dagegen Heidelberg Pharma - dafür hat der Wirkstoff der Deutschen einzigartige Eigenschaften.

Onkologie-Aktienfonds

Krebsmedizin-Portfolio

Beim Kampf gegen Krebs wurden in den vergangenen Jahren immer wieder große Fortschritte erzielt - die Pharma- und Medizintechnikunternehmen erhebliche Gewinne in die Kassen spülen. Gesundheitsaktienexperte Rudi van den Eynde setzt beim Candriam Equities Oncology Impact auf Firmen, deren Produkte die Diagnose und Therapie von Krebserkrankungen deutlich verbessern. Zu seinen Top-Positionen zählen aktuell Astrazeneca, Merck & Co. und Roche.