Das Bemerkenswerte an der Zunahme der nationalistischen Stimmung in den entwickelten Ländern in den vergangenen Jahren ist, dass diese in eine Zeit fällt, in der viele der drängendsten Herausforderungen, darunter der Klimawandel und die Covid-19-Pandemie, globale Probleme sind, die nach globalen Lösungen verlangen. Und die wachsende Wut der Menschen in impfstoffarmen Ländern - jenen zwei Dritteln der Menschheit, die außerhalb der hochentwickelten Länder und Chinas leben -, könnte nur allzu bald auf die reiche Welt zurückschlagen.
US-Präsident Joe Bidens Pläne zur Bekämpfung der Ungleichheit in Amerika sind zu begrüßen, wenn die Regierung es schafft, die Kosten durch höhere Steuereinnahmen oder stärkeres Wachstum auszugleichen. Das Gleiche gilt für das Programm der EU, das den von der Pandemie überproportional in Mitleidenschaft gezogenen Mitgliedsländern helfen soll. Die 16 Prozent der Weltbevölkerung, die in hochentwickelten Ländern leben, können sich nach der Pandemie auf eine wirtschaftliche Erholung freuen. China, auf das 18 Prozent der Weltbevölkerung entfallen, war die erste wichtige Volkswirtschaft, in der es wieder bergauf ging.
Doch was ist mit allen anderen? Wie der Internationale Währungsfonds (IWF) jüngst betonte, entwickelt sich die Lage weltweit gefährlich auseinander. Die Armut hat in weiten Teilen der sich entwickelnden Welt explosionsartig zugenommen, und die meisten Länder dürften frühestens Ende 2022 wieder ihr Produktionsniveau von vor der Pandemie erreichen. Bisher war das 21. Jahrhundert eine erfolgreiche Aufholjagd für die Entwicklungsländer. Doch die Covid-19-Krise hat die ärmeren Länder just zu einer Zeit schwer getroffen, in der der reichen Welt bewusst wird, dass die Eindämmung der Pandemie und der sich anbahnenden Klimakatastrophe enorm von den Bemühungen der Entwicklungsländer abhängt.
Verschlimmert wird die Lage dadurch, dass große Teile der Welt mit steil gestiegenen Auslandsschulden in die Pandemie eingetreten sind. Die Zinssätze für Tagesgelder mögen in den hochentwickelten Volkswirtschaften bei null liegen oder negativ sein. Doch in den Schwellen- und Entwicklungsländern liegen sie im Schnitt bei über vier Prozent, und langfristige Kredite sind noch viel teurer. Einige Länder, etwa Argentinien, haben bereits den Zahlungsausfall erklärt. Viele weitere könnten folgen, wenn die ungleichmäßige Wirtschaftserholung die weltweiten Zinsen in die Höhe treibt. Wie also können die ärmeren Länder für Covid-19-Impfstoffe und -Entlastungsmaßnahmen oder gar für den Übergang zu einer grünen Wirtschaft bezahlen? Weltbank und IWF stehen unter enormem Druck, Lösungen zu finden. Doch fehlt ihnen die erforderliche Finanzstruktur. Sie sind in erster Linie darauf ausgelegt, als Kreditgeber zu fungieren. Doch genau wie reiche Länder ihren Bürgern während der Pandemie direkte Transferleistungen gewährt haben, muss dasselbe für die Entwicklungsländer getan werden. Höhere Schulden werden Zahlungsausfälle im Gefolge der Pandemie nur verschärfen. Jeremy Bulow von der Universität Stanford und ich argumentieren seit Langem, dass direkte Beihilfen eine sauberere Lösung darstellen als Kreditinstrumente.
Was also ist zu tun? Zunächst einmal muss die reiche Welt die Impfkosten für die Entwicklungsländer tragen. Die Kosten in Milliardenhöhe sind Peanuts im Vergleich zu den Billionen, die die Industriestaaten zur Abmilderung der Auswirkungen der Pandemie auf ihre eigenen Volkswirtschaften ausgeben. Sie sollten außerdem umfassende Subventionen und technische Unterstützung bei der Verabreichung der Vakzine leisten. Nicht zuletzt, weil dies nicht die letzte Pandemie sein wird, ist dies eine effektivere Lösung als die Beschlagnahme des geistigen Eigentums der Impfstoffentwickler.
Zugleich sollten hochentwickelte Volkswirtschaften, die Billionen für umweltfreundliche Energiesysteme in ihren eigenen Ländern ausgeben, imstande sein, ein paar Hundert Milliarden jährlich zur Unterstützung derselben Umstellung in den Schwellenmärkten zu finden. Kohlenstoffabgaben könnten dies finanzieren, und zwar im Idealfall durch die Mittlertätigkeit einer Kohlenstoff-Weltbank: einer neuen Institution, die Entwicklungsländer bei der Dekarbonisierung unterstützt.
Es ist zudem wichtig, dass die entwickelten Volkswirtschaften für den Welthandel offen bleiben, um die länderübergreifende Ungleichheit abzubauen. Die Regierungen sollten Ungleichheit in ihren eigenen Ländern bekämpfen, indem sie ihre Transferleistungen und sozialen Sicherheitsnetze ausweiten, und nicht, indem sie Handelsbarrieren errichten, die Milliarden Menschen in Afrika und Asien benachteiligen. Auch würden diese Menschen vom Ausbau der Internationalen Entwicklungsorganisation profitieren.
Die Bekämpfung der Ungleichheit innerhalb von Ländern mag die politische Notwendigkeit der Stunde sein. Doch der wahre Schlüssel zur Aufrechterhaltung der geopolitischen Stabilität im 21. Jahrhundert liegt in der Bekämpfung der sehr viel größeren Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern.
Kenneth Rogoff
Der 68-jährige Kenneth Rogoff war von 2001 bis 2003 Chefökonom des Internationalen Währungsfonds (IWF) und ist heute Professor für Volkswirtschaft an der Universität Harvard. Zusammen mit der Ökonomin Carmen Reinhart veröffentlichte er 2009 den Bestseller "Dieses Mal ist alles anders. Acht Jahrhunderte Finanzkrisen". Rogoff machte sich außerdem als Schachspieler einen Namen und trägt den Titel eines Großmeisters.