Auslöser für den jüngsten Kursrutsch an den internationalen Aktienmärkten waren plötzlich zurückgekehrte Zinsängste. Das ist schon ein Stück weit paradox. Denn wir sehen bereits seit fast zwei Jahren wieder anziehende Zinsen. So hat sich die Rendite von zehnjährigen Bundesanleihen von - 0,4 auf + 0,6 Prozent erhöht. In den USA werfen zehnjährige Staatsanleihen mit 2,9 Prozent sogar fast doppelt so hohe Renditen ab wie im letzten Tief 2016. Die vielfach befürchtete Zinswende ist längst da. Außerdem sind die gestiegenen Zinsen eine Folge der robusten Konjunktur. In der Eurozone ist die Wirtschaft im vergangenen Jahr um 2,3 Prozent gewachsen. Selbst die kriselnden Peripherieländer haben wieder zugelegt. In den USA expandierte die Volkswirtschaft ähnlich stark.
Nun ist eine wachsende Wirtschaft generell der beste Nährboden für steigende Unternehmensgewinne. Nicht nur die Umsätze nehmen zu, sondern aufgrund der höheren Nachfrage auch die Preissetzungsmacht der Firmen. Im groben Durchschnitt sollten die Unternehmen - wie schon 2017 - auch 2018 rund zehn Prozent mehr verdienen als im zurückliegenden Jahr. Steigende Unternehmensgewinne sind der stärkste Motor für höhere Aktienkurse. Die Aussichten für Aktien sind also nicht trotz gestiegener Zinsen gut, sondern weil die höheren Zinsen ein Spiegelbild des weltweit robusten Wirtschaftswachstums sind. Interessanterweise haben bei der jüngsten Korrektur nicht zyklische, sondern defensive Aktien am stärksten verloren. Wenn die Unsicherheit steigt, flüchten Anleger normalerweise in konjunkturunabhängigere Titel wie Nestlé oder Roche. Das war dieses Mal anders. Offenbar setzen die Anleger auf ein spürbares Wirtschaftswachstum, von dem zyklische Unternehmen etwa aus den Bereichen Industrie, Autos und Bau am meisten profitieren.
Gefährlich wird es erst dann, wenn die Inflation die Renditen von Staats- und Unternehmensanleihen so hoch treibt, dass sie wieder eine Alternative zu Aktien darstellen. So weit sind wir aber noch nicht. Obwohl in Ländern wie den USA Vollbeschäftigung herrscht und in Deutschland der Arbeitsmarkt zumindest in der besten Verfassung seit Jahren ist, bleibt eine typische Lohn-Preis-Spirale, sprich Inflation, bislang weitgehend aus. Das könnte sich freilich durch die völlig unnötige Steuerreform und den daraus resultierenden temporären Nachfrageschub für die Vereinigten Staaten in den kommenden Monaten ändern, wenn die Arbeitslosenquote quasi unter Vollbeschäftigungsniveau fällt. Das hatten wir schon einmal 1999.
Es gibt allerdings Faktoren, die einer stark anziehenden Inflation entgegenwirken. Da ist zum einen der hohe Grad der Globalisierung trotz der jüngsten protektionistischen Entwicklungen. Zum anderen ist der Ölpreis nach oben gedeckelt, und zwar durch die Fracking-Industrie in den USA. Sie verdient bei einem Preis von mehr als 60 Dollar pro Fass (WTI) wieder Geld und dreht den Ölhahn auf. Öl beziehungsweise Verkehr macht im Warenkorb, welcher der Inflationsberechnung zugrunde liegt, einen Anteil von 13 Prozent aus. Schließlich sorgt der zunehmende Onlinehandel für immer mehr Transparenz und damit Preisdruck. Auch in anderen Branchen wirkt sich die sich ausbreitende Digitalisierung durch Effizienzgewinne preisdämpfend aus.
Unter dem Strich bleibt uns das sogenannte Goldilocks-Umfeld vorerst weiter erhalten: Die Wirtschaft wächst so stark, dass die Unternehmen spürbar mehr verdienen, noch verharren die Inflation und damit die Zinsen auf einem niedrigen Niveau. Dazu kommt die gestiegene Stabilität der Aktienmärkte. Denn die Unternehmen halten aufgrund der schlechten Erfahrungen in der Finanzkrise im Vergleich mehr Cash. Nach dem Kursabsturz vom Februar kann von Euphorie unter den Anlegern keine Rede sein. Das ist gut, denn kritische Anleger sind nicht voll investiert und damit potenzielle Aktienkäufer.
Norbert Hagen ist Vorstandssprecher bei der ICM InvestmentBank, Berlin. Vor zehn Jahren übernahm der promovierte Wirtschaftswissenschaftler zudem das Management des Mischfonds Leonardo, der für seine Performance bereits wiederholt prämiert wurde. Seinen Anlagestil bezeichnet Hagen selbst als grundsätzlich opportunistisch, er investiert bevorzugt in ein sehr breites Spektrum von Aktien und Unternehmensanleihen.