Es ist Wahlkampf, die Hochphase läuft, und das politische Berlin ist in diesen Tagen noch hektischer als üblich. Anja Hajduk sitzt allerdings sehr entspannt in ihrer Berliner Wohnung bei diesem Gespräch, das, wie inzwischen wegen Corona schon fast gewohnt, per Video-Anruf stattfindet. Die stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag stammt aus der Ruhrgebietsmetropole Duisburg. Das Studium der Psychologie führte sie nach Hamburg, in die Stadt, in der sie seit gut einer Generation lebt und die sie liebt.
Sie arbeitet als Psychologin im internationalen Jugendaustausch, als sie 1995 Mitglied der Grünen wird. Schon zwei Jahre später sitzt sie als Abgeordnete in der Hamburger Bürgerschaft. Inzwischen hat sie 23 berufspolitische Jahre hinter sich: sieben Jahre Landesparlament, 14 Jahre Bundestag, zwei Jahre Umweltsenatorin in Hamburg.
Es gibt nur wenige Grüne, die über eine derart breite politische Erfahrung verfügen. Hajduk hat viele Erfolge vorzuweisen, und sie hat Einfluss. Sie war stellvertretende Vorsitzende des Haushaltsausschusses im Bundestag, haushaltspolitische Sprecherin ihrer Fraktion, Landesvorsitzende der Hamburger GAL, bis dort unter Ole von Beust die erste schwarz-grüne Koalition geschmiedet und sie Senatorin wurde.
Dass schmerzhafte Kompromisse auch zum politischen Geschäft zählen, musste sie als Hamburger Umweltsenatorin erleben. Obwohl der Kampf gegen das Steinkohlekraftwerk in Moorburg 2008 der Grüne Wahlkampfschlager war, musste sie das Kraftwerk aus rechtlichen Gründen damals genehmigen. Auch das ist Geschichte: Nach nur sechs Betriebsjahren ist Moorburg inzwischen im Rahmen des Kohleausstiegs wieder abgeschaltet. Die "radikale Realistin", wie sie sich selbst einmal nannte, kämpfte viele Jahre für eine generationengerechte Finanzpolitik, bei der die Lasten nicht einfach durch eine überbordende Staatsverschuldung auf die nächste Generation verlagert werden. Sie unterstützte die Verankerung der Schuldenbremse im Grundgesetz, plädiert heute aber vehement für eine Modifikation zugunsten von kreditfinanzierten Investitionen. In der Sozialpolitik zählt sie zu den Grünen, die Fragen nach deren Finanzierbarkeit nicht verdrängen.
Manche unterstellen, dass sie nicht zuletzt die zunehmende Ausgabenlust ihrer Partei auch für Konsumzwecke zum Aufhören bewogen habe - was sie allerdings vehement abstreitet. €uro am Sonntag sprach mit Hajduk über das Klima auf dem Globus und in Berlin - und die Gründe, ihre Laufbahn in der Politik zu beenden.
Euro am Sonntag: Sie sagen der Berufspolitik nach einem knappen Vierteljahrhundert freiwillig Ade. Warum?
Anja Hajduk: Vor einem guten Jahr habe ich mich geprüft, ob ich erneut das Engagement und die Motivation aufbringe, weitere vier Jahre für meine Stadt Hamburg und für grüne Politik im Bundestag zu kämpfen. Da habe ich gemerkt, dass für mich ein Rollenwechsel ansteht. Das selbstbestimmte Nein zu einer erneuten Kandidatur macht es mir jetzt leichter, mein Mandat ordentlich zu Ende zu führen, aber gleichzeitig auch auszusteigen und Abschied zu nehmen. Ich verspüre im aktuellen Wahlkampf nach wie vor eine hohe Identifikation mit der Politik und den grünen Zielen. Trotzdem klammere ich mich nicht an die Abgeordnetenrolle, im Gegenteil.
Wie hat sich das gesellschaftspolitische Klima im Land in Ihren langen berufspolitischen Jahren verändert?
Wenn ich die Jahre Revue passieren lasse, haben wir eine Gesellschaft, die wirklich kritisch und anspruchsvoll mit den Politikerinnen und der Politik umgeht. Das ist einerseits positiv. Eine selbstbewusste Bevölkerung ist wählerischer geworden, schaut genau hin, wen sie warum und wie unterstützt. Lebenslange Parteitreue hat ausgedient. Andererseits müssen Parlamentarier in der repräsentativen Demokratie fürs Gemeinwohl Kompromisse machen, die auch für Einzelne Zumutungen bringen. Die Akzeptanz, mit Kompromissen umzugehen, oder die Bereitschaft, auch jenseits von unzufriedenen Gefühlen nüchtern und rational eine Abwägung zu vollziehen, ist deutlich geschwunden. Da artikulieren sich immer häufiger Einzel- und Gruppeninteressen, die den Blick für die ganze Gesellschaft verstellen. Deshalb ist die Tonlage aggressiver und unerbittlicher geworden zwischen politischen Repräsentanten und Teilen der Wählerschaft. Die Rechtsaußenpartei AfD hat diese Unversöhnlichkeit und Kompromisslosigkeit in den vergangenen vier Jahren auch in den Bundestag getragen.
Die Klimaerwärmung, ein globales Thema, ist eines der innenpolitischen Topthemen in diesem Wahlkampf. Doch selbst die radikalste deutsche Klimapolitik wird den globalen CO2-Ausstoß nicht verändern, wenn nicht allen voran die USA und China mitziehen. Schüren die Grünen hier nicht falsche Erfolgserwartungen, die nur in Wählerfrust münden werden?
Die Bereitschaft der Menschen war noch nie so groß wie heute, Klimaschutz endlich mit konkreten Maßnahmen voranzutreiben. Das Thema nimmt die Bevölkerung so ernst und wichtig, dass auch fast alle anderen Parteien, für die der Klimaschutz im Gegensatz zu den Grünen nicht zur Kernkompetenz zählt, daran im Wahlkampf überhaupt nicht mehr vorbeikommen. Doch die Politik muss diese gewachsene Sensibilität der Bürger in Instrumente übersetzen, die sie am Ende auch bereit sind mitzugehen. Da bin ich ganz hoffnungsvoll. Das werden auf längere Sicht viele Schritte und Kompromisse sein. Aber die Richtung wird stimmen. Der Einstieg in die CO2-Bepreisung ist bereits geschafft, der Erhöhungspfad vorgezeichnet. Da kommt es jetzt darauf an, dass die Grünen bei dieser Wahl so stark wie möglich werden, um diesen Pfad zum Erfolg zu führen. Ich glaube nicht, dass die globale Klimapolitik in Deutschland in einen Bürgerfrust münden wird im Sinne: "Bringt ja doch nichts, außer dass wir die nationale Zeche zu bezahlen haben." Wenn man sich die Kraft vor Augen führt, die von der jungen "Fridays for Future"-Generation entfaltet wurde, um uns Älteren vor Augen zu führen, was wir für einen Raubbau an den natürlichen Ressourcen betrieben haben, dann bin ich mir sicher: Die Bewegung dauert fort. Der politische und gesellschaftliche Handlungsdruck bleibt auch im Land hoch, obwohl die Menschen die internationale Komplexität durchaus verstehen.
Ihre berufspolitische Laufbahn hat eine dominierende Konstante: die Haushalts- und Finanzpolitik. In der Klimapolitik wird jetzt selbst vom Bundesverfassungsgericht das Vorsorgeprinzip im Interesse der jungen Generation angemahnt. Wie sieht es mit dem Schutz der jüngeren Kohorten vor Überforderung durch die Kosten der Alterung unserer Gesellschaft aus?
Deutschland hat einschließlich des Jahres 2019 zehn sehr gute Jahre gehabt, in denen sich die Haushaltslage von Bund, Ländern und Gemeinden nach der Finanz- und Eurokrise gut entwickelt hat. Das wirtschaftliche Wachstum war ordentlich, die Beschäftigungslage - auch demografisch bedingt - sehr hoch. Deshalb haben sich in jenen Jahren die Kassen der Sozialversicherungen gut gefüllt und die Steuereinnahmen des Staates sprudelten. Flankiert wurde das noch von einer unheimlich günstigen Zinsentwicklung. Dramatisch war allerdings, wie die Große Koalition diese günstigen Umstände acht Jahre lang für dringend notwendige Strukturreformen ungenutzt verstreichen ließ. Sie hat dieses goldene Jahrzehnt einfach verfrühstückt: für die Mütterrente etwa, die Rente mit 63 oder das Baukindergeld. Doch im laufenden Jahrzehnt stellt sich die demografische Lage leider völlig anders dar. Die geburtenstarken Babyboomer gehen in Rente und Pension. Die Ausgaben der Sozialversicherungen steigen, die Steuereinnahmen wachsen nicht mehr so dynamisch. Dringend notwendige Zukunftsinvestitionen - Stichworte Klimaschutz und Digitalisierung - sind über viele Jahre unterblieben. Der Substanzverzehr an der Infrastruktur ist längst überall zu besichtigen. Dabei hätten wir die nötigen Mittel gehabt.
Sie haben in Ihrer politischen Arbeit immer die Fahne für eine nachhaltige und generationengerechte Finanzpolitik hochgehalten. Dazu gehörte auch das Ja zur grundgesetzlichen Schuldenbremse. Linke und SPD stellen sie infrage, die Grünen auch?
Wir Grünen fühlen uns einer nachhaltigen Finanzpolitik zutiefst verpflichtet. Die Haltung ist in der Partei nach gut zwei Jahrzehnten breit verankert. Deswegen muss es Regeln geben, gerade auch mit Blick auf den demografischen Wandel, die vorschreiben, dass laufende Ausgaben ausgeglichen finanziert werden müssen. Für diese laufenden Ausgaben im Haushalt bleibt eine Schuldenbremse wichtig. Das ist mit Blick auf die kommenden Finanzierungsprobleme der sozialen Sicherungssysteme ehrgeizig genug. Doch für die Kreditfinanzierung von Investitionen brauchen wir andere Möglichkeiten, als sie die geltende Schuldenregel des Grundgesetzes bietet. Der Rückgang der Investitionsquote selbst in guten Haushaltszeiten belegt den Reformbedarf, zumal angesichts der bevorstehenden Transformation unserer Volkswirtschaft in Richtung Klimaneutralität.
Die Bundesbank hält in ihrem jüngsten Monatsbericht die nochmalige Aussetzung der grundgesetzliche Schuldenregel für den Bundeshaushalt 2022 nicht für notwendig. Im Haushalt stünden hohe und sehr großzügig bemessene Rücklagen zur Verfügung. Das sind doch Argumente für die Parteien, die wie FDP, AfD und Union die Schuldenregel weder abschaffen noch modifizieren wollen?
Auch wenn Deutschland die Pandemie im Jahr 2022 hoffentlich weitgehend überwunden haben wird, wird der Staat die Folgen weiter abmildern müssen, daher halten wir die Ausnahmeregel auch 2022 für gerechtfertigt. Und es stimmt, dass es Rücklagen gibt, doch die Finanzplanung von Minister Scholz zeigt, dass er diese in den kommenden Jahren komplett aufzehren muss, um mit Ach und Krach überhaupt die Schuldenbremse einhalten zu können, so groß sind die strukturellen Lücken im Haushalt. Es gibt keine finanziellen Spielräume mehr. Aber wir können doch genauso wenig darüber hinwegsehen, dass wir jetzt enorme Zukunftsinvestitionen anstoßen müssen und auch der Privatwirtschaft damit Anreize geben, dass sie mitzieht. Diese Investitionen in Klimaschutz und Digitalisierung zu tätigen ist für mich auch eine Frage der Generationengerechtigkeit. Wenn wir das nicht schaffen und gleichzeitig das öffentliche Vermögen so verzehren wie in den vergangenen Jahrzehnten, ist das auch eine Art von Verschuldung für kommende Generationen. Selbst Michael Hüther vom Institut der deutschen Wirtschaft, der ja nun politisch unverdächtig ist, fordert ein öffentliches Investitionsprogramm. Selbst bei der Union hat Markus Söder kürzlich eine verfassungsrechtliche Prüfung angeregt, wie die große Herausforderung durch den Klimawandel in den nächsten Jahren finanziert werden kann, zuvor hat Kanzleramtschef Helge Braun im Frühjahr eine Modifizierung der Schuldenbremse thematisiert. Klar ist natürlich für uns, dass wir sämtliche Reformüberlegungen in Deutschland mit den europäischen Regeln zusammenbringen müssen, maßgeblich dem Fiskalvertrag und dem Stabilitäts- und Wachstumspakt.
Sie sagen der Politik Adieu. Wie sehen Ihre Pläne für die Zukunft aus, wo würden Sie sich in einem Jahr sehen?
Was ich in einem Jahr machen werde, weiß ich noch nicht - und das fühlt sich gut an.
Vita:
Radikale Realistin
So bezeichnet sich Anja Hajduk, Jahrgang 63 und bis dato noch Mitglied des Deutschen Bundestags, selbst. Hajduk stammt aus Duisburg, studierte in Hamburg Psychologie. 1995 tritt sie den Grünen bei, wird zwei Jahre später Abgeordnete der Hamburger Bürgerschaft. Hajduk war stellvertretende Vorsitzende des Haushaltsausschusses des Bundestags, später Senatorin für Stadtentwicklung und Umwelt in Hamburg und ist heute stellvertretende Fraktionsvorsitzende Bündnis 90/Die Grünen. Sie liebt den Gesang und geht regelmäßig in die Oper.