Viele Affären, die er allein oder im Team aufgedeckt hat, drehten sich um Geld und ökonomische Vorgänge. Warum? "Weil Geld häufig mit Gier und mit Regelverletzung zu tun hat. Das hat mich umgetrieben", sagt Hans Leyendecker. Seine Tätigkeit als Journalist ruht derzeit, doch hat seine aktuelle Tätigkeit mit Ethik mindestens ebenso viel zu tun wie seine ­vorherige: Der praktizierende Christ ist Präsident des Evangelischen Kirchentags, der in der kommenden Woche stattfindet. Grund genug, ihn zu Wirtschaft und Moral zu befragen.

€uro am Sonntag: Herr Leyen­decker, ist Sport für die evangelische Kirche wichtiger als Wirtschaft?
Hans Leyendecker: Nein. Wie kommen Sie darauf?

Der Kirchentag, das größte Treffen evangelischer Christen in Deutschland, hat über 2000 Veranstaltungen. Nur drei davon sind explizit zum Thema Wirtschaft und sechs zu Sport.
Sport ist am Tagungsort Dortmund wichtig, weil das eine Sportstadt ist. Und weil Sport viel von dem abdeckt, worum es heute auch in der Frage der Religion geht: Was gibt mir Sinn? Wo finde ich Gemeinschaft? Wie erlebe ich Regeln für ein Miteinander, von denen auch ich profitiere? Lohnt sich Leistung?

Letztere Frage wäre in einem Wirtschaftsforum bestens aufgehoben.
Für viele Leute ist Wirtschaft natürlich existenziell - ganz einfach weil sie davon leben. Man muss sehen, dass viele Veranstaltungen indirekt damit zu tun haben. So haben wir eine eigene Halle zur Umwelt oder auch eine Podiumsreihe zu Europa, da wird es beide Male viel um Wirtschaft gehen.

Dennoch hat man den Eindruck, dass Ihre Kirche des Themas müde ist. Das sah vor zehn Jahren anders aus, als die Finanzkrise ein wichtiges Thema und viel Kritik am Kapitalismus zu hören war.
Kirchentage nehmen die Strömungen der Zeit auf. Damals mussten einige Dinge deutlich benannt werden. Die Finanzmärkte hatten sich von den Volkswirtschaften entkoppelt. Banken, die immense Risiken eingegangen sind, mussten nicht haften. Aber ich habe nicht erlebt, dass der Kirchentag oder die evangelische Kirche den Kapitalismus an sich verdammt hätte. Aber eines ist klar: Ein Wirtschaftssystem muss dem Menschen dienen, und auch die Erde braucht unsere Solidarität. Wir tragen große Verantwortung für die Lebensbedingungen künftiger Generationen und dürfen das Feld nicht den Raubtieren und den Zerstörern überlassen.

Wie wäre es mal mit einem Lob des ­Kapitalismus? Immerhin trägt er zu den steigenden Steuereinnahmen der Kirchen bei.
Ich hoffe, dass sich Kirche nicht durch Steuereinnahmen definiert. Sonst wäre sie verloren.

Der Kirchentag könnte ohne Kirchensteuer nicht stattfinden.
Doch, wenn auch in kleinerer Form oder mit einer größeren Anzahl von Spendern. Schon jetzt spenden - trotz oder vielleicht gerade wegen unserer eigenen strengen Kriterien - viele Unternehmen an uns. Dennoch muss Kirche kritische Fragen an unser Wirtschaftssystem stellen.

Welche?
Hilft es den Menschen? Hilft es insbesondere den Schwachen? Ich glaube, dass die Spaltung zwischen Arm und Reich ein großes Problem ist. Und sie ist oft nicht einmal ökonomisch gerechtfertigt. Eine Trennung von Ökonomie und Moral ist unmoralisch.

Da hätten wir gern ein Beispiel.
Die Deutsche Bank hat seit 2006 mehr als 90 Prozent ihres Börsenwerts verloren. Viele ehemalige Manager, die hierfür Verantwortung tragen, bekommen fürstliche Pensionen. Das müsste auch Sie, die Sie mit Finanzen zu tun haben, alarmieren! Ich halte es generell nicht für gerecht, wenn innerhalb eines Unternehmens die einen sehr wenig und die anderen sehr viel bekommen.

Der frühere SPD-Chef Franz Münte­fering wollte die Vorstandsgehälter ­deckeln. Was halten Sie davon?
Nichts. Es ist schon in Ordnung, dass ein Vorstandsvorsitzender deutlich mehr verdient als der Arbeiter am Band. Aber dass die Unterschiede so extrem gewachsen sind, ist nicht gut für eine Gesellschaft. Die Frage ist immer, wann der Bogen überspannt ist. Maß und Mitte sind wichtig, nicht zu verwechseln mit Mittelmaß. Nicht selten hat man den Eindruck, dass die Managergehälter deutlich stärker steigen, als es der Markt vorgibt.

Das müssen Sie uns erklären.
Vor einigen Jahren haben viele Verantwortliche in großen Unternehmen erklärt, dass sie mehr Gehalt und Pensionen bekommen müssten, weil sie ansonsten nach Amerika gingen. Aber wer hat solche Angebote tatsächlich bekommen? Kaum einer. Im Fußball wären die nicht transferiert worden, und wohl auch in der Wirtschaft nicht, weil Preis und Leistung nicht zusammenpassten.

Sie haben vor gut zehn Jahren das Buch "Die große Gier" veröffentlicht, in dem Sie eine neue Moral für die Wirtschaft fordern. Warum ist das nötig?
Ich glaube nicht, dass Gier die Menschen antreibt, sondern der Wunsch, etwas zu leisten, Erfolg zu haben, Verantwortung zu übernehmen. Gier hilft nie. Gier ist unchristlich. Gier, Geiz und soziale Verantwortungslosigkeit zerstören den Menschen, der sein Leben darauf baut. Wer nur an den schnellen Erfolg denkt, zerstört sich selbst. Das Rücksichtslose, das Handeln auf Kosten aller, ist Turbokapitalismus, und das lehne ich ab. Wie schädlich das ist, zeigen die aktuellen Exzesse im Immobilien­bereich. In München, wo Ihre Zeitung ja erscheint, ist das besonders augenfällig.

Jetzt sind wir gespannt …
Ich sehe viel Gier bei denjenigen, die Immobilien geerbt, gekauft oder entwickelt haben. Sie setzen immer noch einen drauf, zuungunsten von anderen. Wenn Kapitalismus so funktionieren würde, wie gerade der Immobilienmarkt funktioniert, dann müssten wir über ein anderes Wirtschaftssystem nachdenken.

Was haben Sie dagegen, wenn jemand mehr verdienen will? In der Bibel gibt es das Gleichnis von den Talenten: Derjenige gilt als gottgefällig, der Geld gewinnbringend einsetzt. Wer es nutzlos herumliegen lässt, verliert alles.
Geld zu mehren kann christlich sein. Angenommen, einer baut ein Haus und tut dies für seine Altersvorsorge oder für seine Kinder. Demjenigen Gier zu unterstellen wäre dumm. Mir geht es um die Auswüchse und um mangelnde Solidarität mit den Schwachen.

Was Hans Leyendecker dazu sagt, ob in deutschen Unternehmen geschmiert und getrickst wird, lesen Sie im zweiten Teil des exklusiven Interviews.

Der erste Satz in Ihrem Buch lautet: "In deutschen Firmen wird geschmiert und getrickst, was das Zeug hält." Ist das eine realistische Beschreibung der Wirtschaft?
Es ist die Beschreibung von vor zehn Jahren. Beispielsweise steckte Siemens im größten Korruptionsskandal in der deutschen Geschichte …

… an dessen Enthüllung Sie maßgeblich beteiligt waren …
… und die Vorgänge haben gezeigt, dass sich Korruption nicht lohnt. Danach wurden sogenannte Compliance-­Systeme, die die Einhaltung von Regeln garantieren sollen, zum Trend. Und viele Unternehmen haben sich tatsächlich umgestellt und zeigen mittlerweile eine andere Grundhaltung. Das gilt - hoffentlich - auch für die Autokonzerne. Die haben betrogen, gelogen, geschweinigelt. Die ebenso raffinierten wie vulgären Betrügereien mit dem Begriff "Schummelsoftware" zu beschreiben wäre eine arge Verharm­losung. Das hat ihrem Geldbeutel, ihrem Image geschadet, und nun versprechen sie das große Um­denken. Daraus muss ein Handeln folgen, und ich habe auch da Hoffnung.

Sind die meisten deutschen ­Manager ehrenwert?
Ob es die Mehrheit ist, wage ich nicht zu beurteilen. Das weiß nur der liebe Gott. Aber es gibt sicherlich eine Menge ehrenwerter Leute. Für viele Manager, die ich kenne, ist auch der christliche Glaube ein ­klares Wertefundament.

Und wie sieht es mit Politikern aus?
Ähnlich.

Sie haben die Schwarzgeldaffäre rund um Helmut Kohl im Jahr 1999 aufgedeckt. Was hatte Kohl ­Ihrer Ansicht nach für ein Verhältnis zum Geld - oder zum "Bimbes", wie er es selbst nannte?
Wie so mancher andere Politiker hatte Kohl das Gefühl, erheblich mehr als andere zu leisten und deutlich weniger zu bekommen. Dass der Filialleiter der Deutschen Bank in Bonn mehr verdiente als der deutsche Bundeskanzler, diente ihm als Metapher für die Ungerechtigkeiten des Lebens.

Hat sich im Verhältnis von Politik und Geld im Lauf der Jahrzehnte ­etwas geändert?
Dass staatstragende Parteien am Staat vorbei den Fiskus betrügen, wie es bis Ende der 70er-Jahre passierte, halte ich heute für fast aus­geschlossen. Da gibt es hoffentlich Einsicht - und wenn die nicht reichen sollte, werden sich die Mächtigen fürchten, enttarnt zu werden.

Auch beim kürzlich erfolgten Rücktritt des österreichischen Vizekanzlers Heinz-Christian Strache ging es um Finanzen. In einem Video ist zu sehen, wie er mit der angeblichen Verwandten eines russischen Oligarchen über Zahlungen verhandelt, die seiner Partei politische Vorteile verschaffen sollen. Ist das ein ganz gewöhnlicher Skandal?
Ganz sicher nicht. Die atemraubende Dummheit und Frechheit Straches sind außergewöhnlich.

Viele Affären, mit denen Sie sich ­allein oder im Team beschäftigt ­haben, drehten sich um Geld. ­Woher stammt dieses spezielles ­Interesse?
Weil Geld oft mit Gier und mit Regelverletzung zu tun hat. Das hat mich umgetrieben. Da, wo am meisten Geld zu holen ist, gibt es die größten Sauereien. Am schlimmsten finde ich jene Leute, die so tun, als ob sie bessere Menschen wären, und dem selbst zuwiderhandeln. Das sind Heuchler oder Scheinheilige.

Fasziniert Sie Geld?
Geld fasziniert mich nicht, aber es ist nicht unwichtig, um das Leben zu führen, das man für richtig hält. Wenn ich etwas faszinierend finde, dann auch dies: Was man abgeben kann, wie man helfen kann, was man fürs Gemeinwohl tun kann. Ich bin gern und mit Überzeugung Steuerzahler, was vermutlich nicht für jeden Ihrer Leser gilt.

Möglicherweise, aber dazu ist ja niemand verpflichtet. Zahlen Sie etwa mehr, als sie müssen?
Nein. Aber auf die Idee, etwas zu verstecken, wäre ich nie gekommen.

Sind Sie an der Börse aktiv?
Mit vergleichsweise kleinem Geld bin ich mal aus Gründen der Altersvorsorge vor etwa 15 Jahren an die Börse gegangen. Knapp zwei Jahre später stieg ich aus und bin seit Eintritt in den Ruhestand wieder mit kleinem Geld dabei. Gerade in der Nullzinsphase muss man sehen, dass man auch mal bessere Anlagen für sein Erspartes findet.

Wo sind Sie im Moment investiert?
Beispielsweise bei Henkel und Epson, weil ich überzeugt bin, dass beide Unternehmen die mir wichtigen Standards einhalten. Es sind nicht die großen Börsenrenner. ­Soziale Prinzipien und Nachhaltigkeit sind mir besonders wichtig. Wenn ich in Apple oder Amazon ­investiert hätte, hätte das anders ausgesehen. Aber ich könnte solche Aktien aus innerer Überzeugung nicht kaufen.

Weshalb?
Amazon wegen Steuertricks und ­Apple wegen Verstößen gegen Sozial­standards. Da macht der Aktionär ja irgendwo mit. Auch Rüstungs­firmen sind für mich ausgeschlossen. Ebenso Firmen, die ausbeuten oder Kinder arbeiten lassen.

Viele Christen sehen die Börse als Teufelswerk, Sie offensichtlich nicht. Warum?
Ich gebe meinen Glauben nicht an der Börse ab. Außerdem sehe ich Aktien nur als eine Anlageform ­unter vielen. Wenn man nicht sein Herz daran hängt, nicht wirklich spekuliert, sondern auf seriöse Anlagen setzt, finde ich das in Ordnung. Derivate lehne ich natürlich ab. Die halte ich für finanzielle Massenvernichtungswaffen, um den amerikanischen Investor Warren Buffett zu zitieren.

Der ist unseren Lesern wohl­bekannt. Nochmals zu Ihren Investments: Sie sind bekennender Fan des Fußballbundesligisten Borussia Dortmund. Besitzen Sie dessen Aktien?
Ja, und sie liegen erfreulicherweise im Plus.

Werden Sie verkaufen und die ­Gewinne mitnehmen?
Nein. Darüber werden sich meine Erben Gedanken machen müssen (lacht).

Kirchentag: Treffen der 100.000
Der 37. Deutsche Evangelische Kirchentag findet vom 19. bis 23. Juni in Dortmund statt. Die Treffen werden alle zwei Jahre veranstaltet und sind gewissermaßen die Leistungsschau des Protestantismus. Gerechnet wird mit 100.000 Teilnehmern, Losung ist der Bibelspruch "Was für ein Vertrauen". Zu den rund 2000 Veranstaltungen wird viel Prominenz erwartet - unter anderem Bundeskanzlerin Angela Merkel, ­Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und alle seine Amtsvorgänger.